Am nächsten Morgen, im Morgengrauen, stand Marlin auf dem Porch und sah an sich herunter. Es war für xies mehr als ein kleines Wunder, wie Ariana es geschafft hatte, Kleidung zu organisieren, die sich für längere Wanderungen eignete.
Aber dazu hatte es zwei längere Telefonat gebraucht – hier, wo es weit und breit keinen Empfang gab. Auf Marlins Nachfrage hatte Ariana erneut nur auf die Brosche mit dem Bildnis von Hedy Lamarr getippt, als würde das alles erklären.
Marlin hatte etwas frustriert nachgehakt. „Magie also?“
„Klar, Magie.“ Mit dem Wort war sie ins Sanctum verschwunden.
Marlin hatte zwar von der Tür aus zusehen dürfen und war so auf dem kleinen Raum, der insgesamt kaum länger und breiter war als ein Jugendbett, fast nahe genug gewesen, um Ariana zu berühren. Aber dennoch hatte xies nicht viel von dem, was xies sah, verstanden. Nur beim Aufbauen der Verbindung hatte Ariana sich so gesetzt, dass Marlin überhaupt sehen konnte, was die Magiern tat.
Zuerst sah es nur so aus, als starre Ariana intensiv an die Wand ihres Sanctums, auf eine winzige und anscheinend nicht sehr kreative Stickerei die dort hing. Für Marlin sah diese frappierend nach den vier kleinen Strichen aus, die die Verbindungsstärke auf Mobiltelefonen anzeigten. Dann dort, wo die Stickerei hing, auf einmal ein Loch. Kaum größer als eine Vierteldollar-Münze. Irgendwas hatte Ariana getan, dass Marlin hindurchsehen konnte, obwohl xies sich nicht vom Fleck wegbewegt hatte. Was auf der anderen Seite des kleinen Lochs war, sah nach Technik aus. Ein kleiner Raum oder vielleicht auch eher ein Schrank. Und dort, direkt im Blickfeld, hing noch einmal die gleiche Stickerei, die auch an Arianas Wand hing.
Marlin blinzelte. „Was ist das?“
„Nach was sieht es aus? Es ist ein GSM-Sender.“
„Mit einer Stickerei?“
Ariana zuckte die Schultern. „Man kann sich manche Zauber sehr viel leichter machen, wenn man darauf vorbereitet ist. Wenn du dich schon mal unverhofft in einer Bergregion wiedergefunden hast, weit weg von jeder Zivilisation, und weit und breit ohne einen Sendemast, dann weißt du, wie nervtötend das ist.
Und was einmal passiert, kann wieder vorkommen. Also dachte ich, ich baue vor. So ein kleines Ding, das da nicht hingehört, fällt lange nicht auf, und wenn sie doch mal auffällt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man es einfach für einen Scherz eines anderen Technikers oder einer anderen Technikerin hält.” Sie sah über die Schulter zu Marlin. “Merk dir das. Für Magier ist Entfernung relativer als für andere. Es zählt nicht, wie weit du von einem Ort weg bist, sondern wie nahe er dir ist. Dir persönlich. Und diese Sendestation habe ich quasi wie eine Katze mit meinem Duft markiert.”
Marlin hatte verständnisvoll aber genickt ohne wirklich schon zu wissen, wie und ob xies das je umsetzen können würde. Ariana hatte ihr Smartphone angehoben und dann zu Marlin hingestreckt. Vier volle Striche, während sie vorher bei der Fahrt durch die Berge kaum noch einen Radiosender hereinbekommen hatten.
Dann nutzte die Magiern die Schnellwahl und hob das Smartphone ans Ohr.
Marlin blieb nicht mehr, als dem für xies nun folgenden einseitigen Gespräch zu lauschen. Ariana gab der Person am anderen Ende Marlins Maße durch und ratterte dann eine Liste an Sachen herunter, die Marlin schlucken ließ.
„Ich gebe dir das Geld zurück“, hatte xies verlegen genuschelt, aber Ariana hatte nur abgewinkt. „Das gleicht sich schon wieder aus.“
Später am Abend hatte sich das Ganze wiederholt, aber das zweite Gespräch hatte für Marlin zunehmend surreal geklungen.
„Ja, das ist Blut. Aber du wirst nicht sagen, dass du kein Blut … Vic? Vic?”, wonach die Magierin mit einem Seufzen eine andere Nummer gewählt hatte. „Uh, Sharon, könntest du bitte mal nach Vic sehen? Er müsste in meinem Zimmer liegen? Warum? Na ja, uh. Wusstest Du, dass er kein Blut sehen kann? Ja? Ja, ich bis gerade eben nicht.” Sie kratzte sich an der Nase. “Nimm vielleicht Riechsalz mit, oder was immer man da macht.”
Es hatte dann noch eine Weile gedauert und ein paar Erklärungen am Telefon, wie Sharon die Einkäufe verpacken sollte. Bis Ariana erneut durch die Luft hindurch zu greifen schien und eine kleine Tasche in der Hand hielt, die vorher nicht im Raum gewesen war.
Marlin hatte so eine ähnliche Tasche schon mal bei einer Klassenkameradin während einer Campingtour mit der Schule gesehen. Eine Packtasche, wie man sie für Reisen nutzte und in die man Kleidung hinein falten und dann komprimieren konnte. So, dass sie nicht mehr so viel Platz wegnahm. Nur war diese Tasche hier über und über mit Stickereien in einer Farbe verziert. Einem dunkelrotbraunen Faden.
“Das ist das Blut?”, vermutete xies und fand es doch schon auch etwas eklig.
Ariana sah kurz auf, während sie den Reißverschluss aufzog, und nickte.
“Wessen?”, hakte Marlin nach.
“Meines natürlich,” antwortete Ariana. “Erneut. Entfernung hat für uns nichts mit räumlicher Distanz zu tun und für Notfälle, für den Fall, dass ich etwas aus dem Chantry brauche, habe ich die Tasche vorbereitet.”
“Aber hat das nicht wehgetan?”
Ariana zuckte mit den Schultern. “Nur, wenn du mit einem Dolch rumfuchtelst und dir dramatisch die Hand aufschneidest, oder den Arm, wie einige es tun und sich dann wundern, wieso es ein paar Tage beim Greifen zwirbelt. Wenn du ein paar Freunde in einem Biohacker-Labor hast oder jemand der auch Notfallsanitäter ist, dann macht man das einfach wie beim Blutspenden. Mit einem Viertelliter Blut bekommt man eine ganze Menge Stickgarn getränkt.”
Marlin hatte Ariana für einen Moment nur angestarrt. Blut, Zauber, Dinge die sie einfach durch die Luft zog, von sonst wo her. Es wurde xies gerade mal wieder alles ein bisschen zu viel.
Aber Ariana hatte xies ein Bündel in die Hand gedrückt und die leere und nun schlaffe Tasche zurück durch die Luft gestossen.
Während Ariana ein “Und jetzt den Rest”, ins Telefon sprach, sah sich Marlin an, was xies da übergeben bekommen hatte.
Wanderhosen, ein Hemd und eine Jacke waren um in paar Wanderstiefel gewickelt. In einem Stiefel steckte zusammengerollt Unterwäsche und Socken, in den anderen hatte man ein paar kleine Gegenstände gestopft: ein Taschenmesser, ein Erste-Hilfe-Kit und einen Kompass.
Ariana zog die Tasche erneut durch die Luft, öffnete sie und nahm ein zweites Bündel heraus. Sie stieß sie wieder zurück und bat die Person am anderen Ende der Leitung: “Kannst du sie zurück in den Schrank legen, bevor Wally sie frisst? Danke. Und sag bitte Vic nochmal, dass es mir leid tut. Ich … naja, ich überlege mir was für ihn.” Dann hatte sie aufgelegt und Marlin auch das zweite Bündel gereicht: einen kleiner Wanderrucksack, einen Trinkbeutel und eine Taschenlampe. Alles eingewickelt in einen Schlafsack.
Hier, im Morgengrauen, überprüfte Marlin nochmal den Inhalt des Rucksacks. Ariana hatte xies von den Müsliriegeln einpacken lassen, die sie anscheinend hortet und ebenso ein paar Packungen Beef Jerky. Sie hatte darauf geachtet, dass Marlin den Trinkbeutel aus ihrem Trinkwasservorrat füllte und xies aufgetragen nur so viel von xies Sachen einzupacken, wie xies unbedingt brauchen würde. Was sich dann in ‘fast nichts’ übersetzt hatte.
So effektiv Ariana dabei gewesen war, Marlin beim Packen anzuleiten, so schwer schien es ihr zu fallen, für sich selbst zu packen.
Marlin hatte die Magierin noch eine Weile in ihrem Sanctum fluchen hören, nachdem xies selbst bereits zu Bett gegangen war.
Was Marlin den hin und wieder gemurmelten Worten Arianas entnehmen konnte, konnte diese sich nicht entscheiden, welche Hilfsmittel der Situation angemessen waren und welche nicht. Einen Teil schien sie alleine deswegen wieder auszusortieren, um ihre Gastgeber nicht vor den Kopf zu stossen.
Während Marlin die immer wieder ausgestossenen, unterdrückten Flüche im Räumchen unter ihrem Schlaf-Loft schließlich als einschläfernde Hintergrundgeräusche genutzt hatte, hatte die Magierin anscheinend noch Stunden mit Packen und Umpacken verbracht.
Das jedenfalls würde erklären, warum Ariana sich immer noch an ihrer Küchenzeile und bereits der vierten Tasse Kaffee festhielt.
Und auch, warum sie nicht bemerkt hatte, dass Zyx sich bereits das fünfte Mal einen neue Füllung ihrer Kaffeetasse in Grasnatterngröße erbettelt hatte.
Marlin löste den Blick vom Bild des Morgenmuffeljammers und sah zum Waldrand. Bewegte sich dort etwas im Morgendunst?
Xies sah genauer hin und tatsächlich: aus dem Grau des anbrechenden Tages löste sich ein grauer Wolf. Kein kuscheliges, hundartiges Wesen. Ein grauer, muskulöser Wolf, der Marlin dessen Schulterhöhe sicherlich Marlins Schulterhöhe überragen würde. Ihm folgte ein weiterer Wolf, auch nicht viel kleiner, dann noch einer und noch einer.
Wenn das jetzt echte Wölfe wären …
Marlin dachte lieber nicht weiter darüber nach. Stattdessen wandte xies den Kopf zu Ariana und rief durch die halb offene Tür des Tiny Houses. “Sie sind da.”