Es brauchte eine Schrecksekunde. Vielleicht, weil die Garou sogar für Reflexe zu verdutzt war, während warmes Blut aus ihrer Nase ronn.
Dann aber brauchte es nicht mehr als eine weitere Sekunde, in der die „Grim Heart“ rapide sowohl in die Höhe, als auch in die Breite wuchs. Die eben noch herb, aber weiblichen Züge wichen einem wütend aufgerissenen Maul voller scharfer – und übergroßer – Wolfszähne. Die kräftigen Arme waren doppelt oder eher dreimal so dick, noch muskulöser und mit dunkelgrauem Fell überzogen. An der – eben noch – Frau war nun nichts menschliches mehr zu erkennen.
Marlins Schrecksekunde dauerte noch an. Xies stand erstarrt ein Stückchen neben und hinter Ariana und ihr Hirn versuchte noch das, was die Augen gerade an es weitermeldeten, zu verarbeiten.
Nur Ariana hatte die Schrecksekunde nicht abgewartet, sondern direkt ein, zwei Schritt Abstand zwischen sich und Grim Heart gebracht. Dabei hatte sie auch Marlin an der Kleidung gepackt und hinter sich gezogen. Noch bevor die Wandlung der Garou abgeschlossen war, hatte sie ihren Zauberstab und eine Fotografie unter ihrem Rock hervorgezogen. Mit dem Zauberstab in einer Hand, der Fotografie in der anderen Hand überkreuzte sie die Handgelenke auf der Höhe ihrer Armbänder mit einem entschlossenen Blick.
Als nun gut 250 kg Werwolf einen Satz in ihre Richtung machten, schrie Marlin auf. Um eine Sekunde darauf verdutzt über Arianas Schulter zu schauen. Statt dass sie erst unter dem … Monster … begraben … worden wären um anschließend von den riesig wirkenden Klauen in Stücke gerissen zu werden, hatte es nur ein Geräusch gegeben, als würde jemand mit einer Faust auf einen Kürbis schlagen. Einen sehr, sehr großen Kürbis.
Grim Hearts Klauen hingen vielleicht eine Elle vor Arianas Gesicht entfernt in der Luft und drückten gegen einen unsichtbaren Widerstand. Mit so viel Kraft, dass Ariana, obwohl sie sich dagegen stemmte, gut einen Meter geschoben wurde. Marlin strauchelte und konnte sich gerade noch an Ariana festhalten, um auf den Füßen zu bleiben.
Die Magierin ließ sich davon nicht ablenken. Sie hielt den Blick, mit einem inzwischen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht, fest auf ihrem Gegenüber, das nun die Klauen hob, um erneut zuzuschlagen.
Unweit des Schauspiels hatte sich „Old Prankster“ nach vorne auf den Knien abgestützt und schüttelte sich vor Lachen. Stands-in-Moonlight musterte ihre Fingernägel und säuberte sie mit einem kleinen Zweig.
Der Anführer lehnte gemütlich mit verschränkten Armen im Eingang der Hogan, die sie gerade verlassen hatten. Neben ihm stand Chants-At-Sunrise die sich anscheinend nicht für das Spektakel interessierte und neben ihr hatte sich der Timberwolf auf die Hinterbeine gesetzt. Er betrachtete das Schauspiel und seine Ohren zeigten an, dass er auch die Umgebung, nicht im Auge behielt, aber dass er ihr zumindest einen Teil der Aufmerksamkeit widmete.
Auch der zweite Hieb der Garou löste ein „Kürbis“-Geräusch aus und Arianas Schuhe schliffen einige Zentimeter über den laubbedeckten Boden.
Marlin sog Luft ein und flüsterte. „Wie lange hältst du das durch?“
„So lange, wie es dauert,“ Arianas Stimme klang verbissen.
„Und wie lange dauert sowas normalerweise?“
„Bis sie nicht mehr wütend ist.“
„Und woran merkt man, dass sie nicht mehr wütend ist?“
„Sie wird wieder zum Mensch.“
„Du machst das nicht zum ersten Mal?“
„Nope.“
„Hast du anderen auch die Nase gebrochen …?“
„Je … Äh, nein, wieso sollte ich? Also, ich meine Garou. Das ist doch lebensmüde.“
Marlin deutete über Arianas Schulter auf die Garou, die immer noch versuchte zu ihnen durchzukommen.
„Und das war nicht lebensmüde?“
„Ich war sauer.“
„Und dann ist es nicht lebensmüde?“
„Naja, schon.“
„Warum hast du ihr dann die Nase gebrochen?“ Marlins Stimme kippte etwas.
„Ich war sauer, okay?“
„Old Prankster“ hatte sich, halbwegs, ausgelacht und wieder aufgerichtet. Als er Arianas und Marlins Wortwechsel hörte, brach er erneut in wieherndes Lachen aus und lehnte sich schließlich weinlachend an einen Baumstamm.
„Und was passiert, wenn sie doch durchkommt?“
„Hackfleisch. Hör mal zu, Marlin. Du hast sie nicht angegriffen und du kannst, nach hinten rausgehen. Wenn du ganz normal gehst und nicht rennst, wird sie es nicht mal bemerken. Du kannst dich so lange in den Pickup setzen, bis sie sich beruhigt. Aber ich würde es vorziehen, wenn du mich nicht ablenkst und …“
In diesem Moment fiel der Ärmel von Arianas ohnehin ramponierter Bluse in Steifen herunter und eine dünne rote Linie zog sich über ihren Unterarm. Ariana fluchte unterdrückt.
„Das meine ich!“
Marlin sog Luft ein und xies machte einen Schritt zurück. Dann noch einen. Dann noch einen.
Darauf wurde Stands-in-Moonlight aufmerksam und sie schlug einen Bogen um die Kämpfenden um Marlin entgegenzukommen. Die zögerte, als xies die Garou sah. Vielleicht würde sie sich jetzt auch in ein Dreimeterwesen verwandeln? Aber Stands-in-Moonlight machte eine beschwichtigende Geste und kam schließlich auf leisen Sohlen an Marlins Seite. Sich selbst die ganze Zeit zwischen Marlin und Ariana und „Grim Heart“ haltend, brachte sie den Teenager aus der Gefahrenzone.
Sie ließ Marlin sich in etwas Entfernung unter einen Baum setzen, von wo aus xies weiter zusehen konnte.
Mit der Zeit wurden die Angriffe der Garou langsamer, aber Ariana rutschte immer noch jeden dritten Hieb etwas zurück. Bis sie wortwörtlich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gepresst stand und nur noch … was auch immer … zwischen sich und der Garou aufrecht erhielt. Doch statt mit dem baldigen Sieg vor Augen nochmal aufzudrehen, trat die Garou irgendwann einen Schritt zurück und verwandelte sich in eine, schwer atmende, Frau zurück.
Ariana nahm die gekreuzten Arme herunter. Von ihrem Arm tropfte Blut auf den Boden, wie auch von Grim Hearts Kinn etwas Blut auf den Boden tropfte.
Sie sah Ariana an, die zurückblickte. Auch sie atmete schwer und sah danach aus, als hätte sie mehrere Stunden Steine geschleppt. Noch ein, zwei Sekunden hielten die Frauen den Blickkontakt auf. Dann lachte „Grim Heart“ auf trat wieder auf Ariana zu, umarmte sie und klopfte ihr auf den Rücken.
Über ihre Schulter hinweg konnte man für eine Sekunde Arianas panisch aufgerissene Augen sehen. Dann atmete sie aus und erwiderte die Geste.