Black and white trace of young beautiful ballet dancer isolated over white background

Marlin hatte bei Eintreten einen guten Blick auf Arianas Rückseite gehabt. Xies bekam die Aufforderung, sich zu setzen,  im ersten Moment nicht mit. Statt dessen sog Marlin Luft ein. Arianas Bluse war am Rücken – und möglicherweise nicht nur dort – aufgerissen, so dass der BH-Träger darunter an einer Stelle hervorblitzte und xies auch den Blick auf eine blutige Abschürfung hatte. Nun fiel es xies auch auf, dass sich Ariana etwas vorsichtiger bewegte.

Als Ariana das Zögern ihrer Begleitung bemerkte und das Lufteinziehen hörte, sah sie über die Schulter zurück und schüttelte nur leicht den Kopf. Dann ergriff sie Marlins Hand und zog xies mit sich auf die Felle am Boden. 

Marlin setzte sich mit einem uneleganten Geräusch, dass in diesem Moment furchtbar laut wirkte. Während die Personen, die nach ihnen eingetreten waren, fast keinen Laut verursachten, als sie hinter ihnen entlang im Uhrzeigersinn durch den Raum schritten, um sich dann auf weiteren Fellen – meist ihnen gegenüber – niederzulassen.

Marlin hätte sich beinahe nervös umgesehen, als die Personen, von denen eine gerade noch Ariana angegriffen hatte, hinter ihren Rücken vorbeigingen, aber Ariana drückte xies Hand leicht. Als Marlin sie ansah, um herauszufinden, wie die Magierin hier so ruhig bleiben konnte, entging xies aber auch nicht, wie Ariana unauffällig aber nicht unmerklich den Raum sondierte. Wobei sie im Augenwinkel erkannte, dass einer ihrer Gastgeber in der noch offenen Tür stehen blieb und somit den einzigen Ein- und Ausgang blockierte.

Alle, die sich nun mit ihnen im Raum befanden, gehörten sichtlich den Native Amerikans an. Auch wenn Ariana vermutete, dass nicht alle von ihnen auch Navajo waren, auch wenn sie sich hier auf dem Boden der Navajo Nation befanden. Als erste eingetreten war eine schlanke, hochgewachsene Frau von etwa Anfang zwanzig, mit einer dennoch weichen, weiblichen Figur. Da sie direkt hinter Ariana gewesen sein musste und sie zwar nur leicht, aber doch offen anlächelte, war der hilfreiche Hinweis, wie man sich hier korrekt verhielt, vermutlich auch von ihr gekommen.

Ihr war ein Mann gefolgt, der Arianas Augen kurz hatte größer werden lassen. Er sah aus, als wäre er mindestens vierzig Jahre alt, oder darüber. In das schwarze Haar hatte sich nicht nur an den Schläfen Grau gemischt. Um seine Augen hatte sich eine Vielzahl Fältchen gesammelt. Lachfalten, wie Ariana nach einem kurzen Blick entschied.

Ihm folgte eine Frau, vielleicht in Arianas Alter. Sie trug den traditionellen Rock der Navajo und sah auch ansonsten eher danach aus, wie sich der durchschnittliche Fernsehzuschauer oder frühe deutsche Autoren eine Navajo vorgestellt hätten. In ihre Haare waren Federn eingeflochte, sie hatte mehrere Ketten um den Hals gelegt. Teils mit Anhängern, teils ohne. Und von ihrem Gürtel baumelten mehrere Beutel und ein Messer mit silberner Klinge, dessen Griff aus einem Hirschgeweih gefertigt worden war. Marlin gruselte es etwas, dass sie wirkte, als wäre sie nur zur Hälfte in diesem Raum anwesend. Woher der Eindruck auch immer kommen mochte.

Ihr folgte – was Marlin ein leises Aufkeuchen entlockte – ein riesiger Timberwolf mit nebelgrauem Fell und dunkelgrauer Zeichnung. Er machte es sich neben der Frau im Rock gemütlich, die sich auf die Felle kniete, statt die Beine unterzuschlagen.

In der Tür stehen geblieben war eine Frau, die nur einen halben Kopf größer sein konnte als Ariana, die damit, wie so oft, die Kleinste in der Runde war.Sie hatte, für eine Frau, recht breite Schultern und den Bau einer Kugelstosserin. Ihr unfreundlicher Blick ließ ahnen, dass sie es war, die Ariana angesprungen hatte.

Als die vier Garou ebenfalls Platz genommen hatten, neigte Ariana auch ihnen gegenüber leicht den Kopf, aber sie sparte sich eine ähnliche Geste in Richtung Tür. 

Auch der Anführer war stehen geblieben und er hatte den Blick die gesamte Zeit nicht von den beiden Weißen gelassen. Als Ruhe eingekehrt war, sprach er Ariana erneut an. „Und?“

Ariana schluckte jede dumme Bemerkung herunter, die ihr gerade auf der Zunge lag. Sie konnten es sich nicht leisten hier rauszufliegen oder auch nur einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Auch wenn die unfreundliche Begrüßung so langsam begann sie zu nerven.

Statt dessen versuchte sie sich vernünftig zu verhalten und neigte noch einmal den Kopf. „Ariana Mends-the-Weaver Austen …“

Von der Tür konnte man ein Grollen vernehmen, aber Ariana lies sich nicht irritieren.

„Deciple der Society of Ether aus dem Chantry Bia Hephaestia …“

„Deciple?“ war es die freundlich blickende Frau, die die Frage in den Raum warf.

„Quasi bedeutet das, dass ich noch ein Lehrling bin, aber in diesem Rang dürfen wir schon bis nach Mitternacht aufbleiben und uns alleine in Schwierigkeiten bringen,“ konnte sich Ariana eine trockene Antwort nicht verkneifen.

Die Fragestellerin schmunzelte leicht, aber der Mann mit den grauen Schläfen neben ihr lachte auf, was ihm einen bitterbösen Blick von der Tür aus einbrachte.

Ariana nickte nun in Marlins Richtung. „Meine Begleitung ist Marlin Anderson, Orphan.“

„Orphan?“ hakte die gleiche Frau erneut nach. Marlin zuckte bei dem Begrff zusammen, als xies durch ihn wie mit einem Schwall Eiswasser daran erinnert wurde, was geschehen war.

„Quasi ein ‚Lost cub‘ …“

Alle Augen richten sich auf Marlin und musterten xies, mit einer Mischung aus … Bedauern und Vorsicht?

„Kann es … ähnliche Probleme geben?“ hakte die gleiche Frau wieder nach.

„Abgesehen von ‚plötzlich drei Meter groß mit Fell und Klauen‘ …“ Ariana nickte. „Theoretisch. Bis Marlin gelernt hat, die Kräfte zu beherrschen, kann es zu spontanen Ausbrüchen kommen.“

„Und ihr habt ein Lost Cub gefunden …“ es klang nach etwas wie Anerkennung in der Stimme. Ariana schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich eine unserer Seherinnen. Ich habe nur die letzte Meile übernommen, sozusagen.“

Die Frau schmunzelte, sagte aber nichts.

Ariana wandte den Blick wieder dem Anführer zu. „Ich bitte um Schutz und Unterkunft für Marlin und mich. Marlins Erwachen blieb nicht unbemerkt. Eine Gruppierung Magier, die wir die Technokratie nennen, wurde ebenfalls darauf aufmerksam. Als sie kamen, um Marlin zu holen, war ich ihnen bereits zuvor gekommen. Das hat leider nicht verhindert, dass sie Marlins Mutter getötet haben.“

Marlin starrte auf xies Hände.

„Vermutlich, um uns aus der Deckung zu locken oder Marlin keinen anderen Weg offen zu lassen, als den zu ihnen.“

„Das heißt, ihr trage eure Probleme zu uns?“ Die Stimme des Anführers klang ruhig. Ohne Anklage. So ruhig, dass sie jedes Wesen bei Verstand veranlasst hätte, sofort kehrt zu machen und wegzurennen.

Ariana reckte aber nur das Kinn. „Tatsächlich würde ich das nicht befürchten. Für die meisten Magier fällt das Zaubern leichter, je tiefer wir in die Natur kommen. Für Magier der Technokratie  gilt das genaue Gegenteil. Für sie wird die Magie immer schwerer zu wirken, je weiter sie in die Natur kommen. Sie glauben nicht einmal, dass das, was sie tun, Magie ist. Sondern sie halten es für ein Resultat ihrer fortgeschrittenen Technik. Und … ich habe für bald 10 Meilen keine Stromleitung mehr gesehen. Haben sie hier überhaupt Strom?“

„Wir sind ja keine dekadenten …“ kam es aufgebracht von der Tür.

„Grim Heart!“

Die Frau verstummte.

„Jedenfalls dürfte die Gegend hier nicht mal das sein, was sich Technokraten unter einem idealen Urlaubsgebiet vorstellen. Ich gehe nicht davon aus, dass sie uns folgen werden. Eher werden sie ihre Niederlassungen in den Städten informieren, nach uns Ausschau zu halten, sobald wir dort wieder auftauchen.“ Ariana atmete durch und zog dann die Eulenfeder aus ihrer ledernen Umhängetasche.

„Nichts läge mir ferner, als diese Art Gefahr zu eurem Volk zu schleppen. Marlin ist nicht wichtig genug für sie, um sich so weit von ihrer Komfortzone wegzubewegen und in die Wälder hier einzudringen. Vielleicht hilft das, um euch zu versichern, dass ich uns nicht hierher gebracht hätte, hätte ich Zweifel.  Eule hat mich als eine der Ihren angenommen.“ Sie hielt die Feder auf beiden Händen in die Mitte des Kreises.

Der Anführer sagte, ohne den Blick von ihr zu nehmen: „Chants-At-Sunrise?“

Die Frau im Rock sah nicht einmal wirklich auf, sondern nickte nur in die Richtung des Anführers.

In der Folge nickte auch dieser.

„Gut. Ihr könnt hier bleiben. Zwei Tage und zwei Nächte, einschließlich dieser Nacht. Keinen Tag länger.“

Ariana neigte den Kopf. „Danke.“

Sein Blick blieb auf ihr. „Die Gruppierung … diese ‚Society‘ … sind Technikmagier?“

Ariana nickte. 

„Ihr behaltet sie für euch. Lasst sie in eurem Haus, eurem Gefährt, aber haltet sie von unserem Kinfolk fern.“

Ariana öffnete den Mund. Dann klappte sie ihn wieder zu und nickte.

„Ihr könnt gehen. Stands-in-Moonlight und Old Prankster werden euch einen Platz zeigen, an dem ihr euer Haus abstellen könnt.“

Ariana  musste kurz starren und zu dem Mann mit den grauen Schläfen blicken, der munter grinste. Wenn ein Garou Name mal ein bissche sehr ‚on the nose‘ war, dann wohl dieser. Sein Mondzeichen musste sie eher nicht raten. So reagierte sie erst mit einer Sekunde Verspätung und rappelte sich auf. Marlin tat es ihr nach.

Die freundliche Frau, Ariana vermutete, dass sie Stands-in-Moonlight war, deutete erneut mit einer Hand leicht den Uhrzeigersinn an. Als Erinnerung, Rundhütte nicht in die falsche Richtung zu verlassen. Sie nickte und ergriff wieder Marlins Hand, um zu verhindern, dass xies instinktiv den kürzesten Weg zum Ausgang nahm. Die Frau an der Tür sah ihnen mit unfreundlichem Blick entgegen und für einen Moment glaubte Ariana, dass sie die Tür nicht freigeben würde. Vom Anführer hörte man einen knurrig gebellten Befehl und sie verzog das Gesicht und trat zur Seite. Ariana wartete nicht ab, sondern zog Marlin mit sich mit.

Als sie wieder an der frischen Nachtluft war, atmete sie sie dann auch erst einmal durch.

Die Garou waren zurückgeblieben und hinter ihnen hörte man erneut diese knurrigen Laute.

Marlin sah Ariana relativ bleich an. „Was ist das?“

„Garou,“ erklärte Ariana. „Eine Sprache, die sich auch bilden lässt, wenn sie in ihrer Wolfsform sind.“

Die unfreundliche Garou schoss aus der Hütte und stürmte auf Ariana zu. Marlin konnte sehen, wie Arianas Gesicht einen entspannten Ausdruck annahm, was sie jetzt gerade so gar nicht beruhigte. Aber statt sich erneut auf sie zu werfen, wurde die Frau langsamer und kam dann vor Ariana zum Stehen. So nah, allerdings, dass es deutlich innerhalb von Arianas persönlichem Raum war.

„Es tut mir leid, wegen vorhin. Das …“ Sie knurrte.

Ariana legte den Kopf schief und musterte die Garou. „Aber das macht doch fast gar nichts. Außerdem …“

Sie legte den Kopf in den Nacken, als wolle sie die Sterne mustern. Statt dessen schleuderte sie ihn wieder nach Vorne, so dass ihre Stirn knirschend auf die Nase der Garou traf.

„… sind wir quitt.“


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.