15 - Harmonie

Als xies Ariana wieder ansprechen konnte, ohne sie abzulenken, fragte Marlin: „Wir fahren jetzt zu diesem … Chantry?“

Ariana nickte. „Ja. Es ist bei Seattle. Das heißt, wir werden eine Weile unterwegs sein. Möglicherweise werden wir auch noch für ein oder zwei Tage bei Verbündeten unterschlüpfen. Aber das werde ich unterwegs sehen müssen. Und wenn ja, auch wo.“

Marlin nickte.

„Wie hast du das vorhin gemacht? Das mit der Farbe? Wieso hältst du dann deine Arme so?“ Xies deutete auf Arianas Hände, die auf dem Lenkgrad lagen.

Ariana folgte dem Deut. „Ich muss gestehen, ich bin etwas zögerlich, dir viel zu erzählen oder zu zeigen. Ich weiß noch nicht, welche Richtung du einschlagen wirst, Welcher Tradition du Dich anschließen wirst. Daher kann ich nicht sagen, welchen Lehrmeister du vielleicht finden wirst und wie er drauf ist. Manche mögen es nicht, wenn ihnen von einer anderen Tradition „Flausen“ in den Kopf gesetzt werden.“

„Flausen?“ Marlin hob die Brauen.

Ariana lächelte leicht. „Wir alle arbeiten mit der gleichen Magie. Aber wir haben alle unterschiedliche Vorstellungen davon, warum Magie funktioniert und wieso. Manche Traditionen haben sehr strikte Vorstellungen davon. Andere sind wieder ziemlich offen, für die Arten, die ihre Mitglieder selbst finden. Nicht alle Traditionen sind glücklich, wenn ihre Lehrlinge Ideen anderer Traditionen übernehmen. Wenn die ‚reine Lehre‘ quasi durch ein anderes Denksystem verschmutzt, bastardisiert wird. Und ich habe noch keine wirkliche Ahnung, in welche Richtung dein Talent geht und welche Art Magie dir entspricht. Daher … ich möchte dich nicht in eine schlechtere Position bringen, einen guten Lehrmeister zu finden.“

Marlin runzelte die Stirn. „Vielleicht möchte ich gar keinen Lehrmeister, der so drauf ist.“

Ariana hob leicht die Schultern. „Manche Traditionen kommen einem alt vor oder überholt, ja. Aber ich hatte Dir ja gesagt, dass ich ohne Lehrmeister gelernt habe. Das funktioniert für mich ganz gut funktioniert, aber ich muss gestehen, dass manche Leute, die mehr auf die traditionelle Art gelernt haben, auf ihre Weise robustere Fähigkeiten haben. Ich denke, meine Art hat mich besser auf das vorbereitet, was ich mache. Ich beschäftige mich mehr mit weltlichen Dingen, als wirklich sehr intensiv mit Magie und ich versuche Leute zu schützen und unseren Gegnern in die Suppe zu spucken. Dabei muss ich ständig improvisieren und auf alles Mögliche und Unmögliche vorbereitet sein. Meine Franken-Magie hilft mir dort durchaus recht gut. Aber wenn ich sehe, was formal gut ausgebildete Magier mit etwas Vorbereitung und Planung reissen können … denen kann ich einfach nicht das Wasser reichen, verstehst du?

Ich kann durchaus verstehen, wenn man keine Kompromisse eingehen will, nur um einen Lehrmeister zu finden und die Magiergesellschaft ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen, wenn das nicht schon zu positiv ausgedrückt ist. Aber dennoch solltest du dir erst ansehen, was du ablehnst, bevor du es ablehnst. Und dir nicht schon vorher alle Türen versperren.“

Marlin zog einen Flunsch und Ariana musste schmunzeln.

„Okay, und deine „Tradition“? Sind die eher so verstaubt, wie du gerade sagtest oder … anders?“

Ariana lächelte. „Die Society of Ether ist eine der zwei jüngsten Traditionen. Nicht … wirklich … zwar, weil auch die Anfänge der Society bis ins Mittelalter zurückreichen, aber sie sind die vorletzte Gruppierung, die zu den neun Traditionen hinzugestoßen ist.“

„Welches war die letzte?“

„Die Virtual Adepts.“

„Internetmagier?“

Ariana musste erneut schmunzeln. „Wenn du es so sehen willst, ja. Ein Teil von ihnen ist tatsächlich in der Lage, den Geist vom Körper zu lösen und durch das digitale Netz zu reisen. Das … ist schon beeindruckend.“

„Und deine Leute können das nicht? Was sind sie dann?“

„Verrückte Wissenschaftler.“ Ariana lächelte und sah kurz von der Seite zu Marlin.

Marlin … sagte für den Moment besser nichts. Statt dessen sah xies kurz zu Zyx und dachte an die anscheinend absurden Unterhaltungen zurück, die zwischen der Magierin und ihrer Grasnatter stattgefunden hatten.

Ariana schien den Blick zu bemerken. Jedenfalls wurde ihr Grinsen noch breiter.

„Wir haben ein eigenes wissenschaftliches Journal,“ sie sagte es, in einem vielleicht etwas lockenden Tonfall.

„Oh. Toll.“ Marlin sah wie ein Teenager aus, dem gerade ein wissenschaftliches Journal als Gipfel des Nervenkitzels präsentiert worden war.

Ariana gluckste.

„Und welche … Traditionen … gibt es sonst noch?“

Ariana machte sich daran, diese aufzuzählen.

„Die Verbena, moderne Hexen, Neuheiden, Wicca, wenn du so willst. Ihre Arbeit basiert vor allem auf der Sphäre „Life“. Leben. Der Orden des Hermes, das sind quasi das, was man sich so unter prototypischen Magiern vorstellt. Symbole, Roben, Formeln. Ihr Schwerpunkt ist die Sphäre „Forces“, Energien und Kräfte. Dann gibt es den Cult of Extacy, das sind Magier, die sehr … körperorientiert sind. Sie wirken ihre Magie in dem sie ihren Geist mit Substanzen oder mit anderen Handlungen erweitern, die einem eine andere Perspektive geben sollen. Sex, Schmerz und so weiter. Sie arbeiten vor allem mit der Sphäre „Time“, Zeit. Dann gibt es die Dreamspeaker. Sie sind am nächsten an dem, was man als Naturmagie bezeichnen würde. Auch, wenn auch das, was die Verbena machen, im Großen und Ganzen Naturmagie ist. Aber die Verbena beschäftigen sich mehr mit der stofflichen Natur und die Dreamspeaker mehr, mit dem ungesehenen, dem Verborgenen. Ihre Sphäre ist daher auch „Spirit“. Die Geisterwelt. Aber nicht nur, was man so gemeinhin unter spukenden Geistern versteht.

Es gibt die Euthanatos, die … erm … ich finde sie gruselig. Sorry. Es gibt sicherlich tolle Leute unter ihnen, aber ich finde sie gruselig. Sie wirken ihre Magie vor allem über die Sphäre, die Kräfte der Entropie. Also Zerfall, Auseinanderstreben, Zufall, Schicksal, Glück.

Dann gibt es den Celestial Chorus. Zu ihnen gehört meine Schwester. Sie wirken ihre Magie vor allem über die Stimme und ihre Sphäre ist „Prime“ also quasi die Essenz der Magie. Und dann ist da noch die Akashi Brotherhood. Sie kannst du dir quasi wie asiatische Kampfmönche vorstellen, auch wenn natürlich auch bei ihnen nicht nur Männer dabei sind und auch nicht alles Asiaten. Ihre Sphäre ist der Geist. „Mind“.“

„Und zwischen den Gruppen muss ich nun wählen?“

„Du musst nicht.“ Ariana schüttelte den Kopf und sah wieder zu Marlin. „

„Aber es wäre durchaus sinnvoll. Als Magier ohne Tradition zu sein, bedeutet auch, dass einem die Unterstützung einer Tradition fehlt. Das man ziemlich alleine steht und es gibt auch nicht viele Chantries, die traditionslose Magier aufnehmen. Es gibt auch noch Gruppierungen, die wir „Crafts“ nennen und die Hollow Ones. Die Hollow Ones sind für Magier, die keine Tradition finden oder wollen, aber, hm, es ist wie immer: selbst wenn sich Außenseiter zusammenschließen, so haben sie doch meist eine interne Struktur, die wieder nicht für alle offen ist.

Mir gefällt es auch nicht, wie es ist und ehrlichgesagt, ich tue mein möglichstes, um es zu ändern und die Leute ein bisschen mehr zusammenzubringen. Die Kooperation über die Traditionen hinweg zu stärken. Aber das wird lange dauern und es wird vermutlich eine Aufgabe sein, die ich nicht in meiner Lebenszeit beenden können werde. Von daher kann ich Dir vorerst nur den Rat geben, eine Tradition zu finden, die zu dir passt. Und mit passt, meine ich vor allem, dass sie der Form deiner Magie entgegen kommt. Welche Sphäre deine stärkste Seite ist, sollte auf jeden Fall mit in die Entscheidung für oder gegen eine Tradition einfließen.“

„Wie finde ich das heraus?“

Ariana blickte einen Moment schweigend, nachdenklich, die Straße vor sich entlang. „Ganz ehrlich, nach dem, was ich gestern gesehen habe, vermute ich dass deine Stärke im Bereich Forces liegt. Vielleicht auch Prime. Aber, der Wirbelsturm war schon ziemlich beeindruckend.“

„Also … passe ich zu Leute die Formeln und so benutzen? Und Roben tragen?“ Marlin klang skeptisch.

Ariana schmunzelte erneut.

„Es gibt auch im Orden des Hermes unterschiedliche Strömungen. Sie sind nicht alle so steif, wie es gerade klingt.“

Marlin sah skeptisch zu Ariana. „Aber …?“

Ariana murmelte das nun mehr vor sich hin, als dass sie es laut aussprach: „Aber ich hab noch keinen kennengelernt.“

„Ah-ja.“ Marlin rieb sich die Stirn.

Die Fahrzeugkonsole gab ein Zirpen von sich und Ariana drückte einen Knopf auf dem Lenkrad. „Entschuldige mich einen Moment.“

Auf dem Bildschirm in der Mitte des Armaturenbretts erschien eine Frau undefinierbaren Alters. Ihr graues Haar war zu einer praktischen Frisur kurz geschoren und ihr Gesicht hatte so viele Falten, dass es ein wenig knautschig wirkte. aber dabei freundlich und extrem entspannt. Sogar über den Bildschirm hatte der Anblick dieser Frau einen beruhigenden Effekt auf  Marlin.

Sie lächelte auch kurz in Marlins Richtung, dann wandte sie sich an Ariana. In einer Sprache, die Marlin nicht direkt zuordnen konnte, aber in der Ariana anscheinend flüssig antwortete. Für den Moment konnte xies nur die Gesichter der beiden Frauen beobachten. Marlin sah, wie das der Frau auf dem Bildschirm gleichmäßig entspannt und gelassen blieb, während Arianas Gesicht im Verlauf des Gesprächs erst fast erfreut, kurz darauf aber recht unbegeistert wirkte, dann anscheinend auch etwas unsicher und schlussendlich wohl resigniert. Mit noch einem weiteren Nicken zu Marlin endete die Übertragung und Ariana atmete durch.

„Was … war das?“

„Das war Evi, die Leiterin des Chantries. Sie ist eine Virtual Adept.“

„Und in welcher Sprache habt ihr gesprochen?“

„Oh, Latein.“

„Das,  wird noch gesprochen?“ 

„Magier. Mit einer Kultur aus dem Mittelalter.“ Ariana schmunzelte schief.

„Und ich muss das auch lernen?“

„Es wäre besser. Sehr viele Bücher sind noch in Latein geschrieben. Das heißt, eigentlich nur die, die nicht in Altgriechisch geschrieben sind.“

Marlin hielt sich den Kopf.

„Und warum hast du so komisch geschaut?“

Ariana seufzte. „Evi hat Verbündete kontaktiert und uns eine Unterkunft für einen Zwischenstop besorgt.“

„Aber?“

„Bei einer Garou-Septe. Das ist ein Zusammenschluß mehrerer Werwolf-Gruppen, sozusagen. Aber es ist eine Septe der Wendigo und … sagen wir, junge Weiße und vor allem junge, weiße Nicht-Garou sind nicht gerade die Personen, die sie besonders begeistert beherbergen. Ich muss Dich bitten, dich dort später sehr respektvoll zu verhalten.“


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.