Als xies Ariana wieder ansprechen konnte, ohne sie abzulenken, fragte Marlin: „Wir fahren jetzt zu diesem … Chantry?“
Ariana nickte. „Ja. Es ist bei Seattle. Das heißt, wir werden eine Weile unterwegs sein. Möglicherweise werden wir auch noch für ein oder zwei Tage bei Verbündeten unterschlüpfen. Aber das werde ich unterwegs sehen müssen. Und wenn ja, auch wo.“
Marlin nickte.
„Wie hast du das vorhin gemacht? Das mit der Farbe? Wieso hältst du dann deine Arme so?“ Xies deutete auf Arianas Hände, die auf dem Lenkgrad lagen.
Ariana folgte dem Deut. „Ich muss gestehen, ich bin etwas zögerlich, dir viel zu erzählen oder zu zeigen. Ich weiß noch nicht, welche Richtung du einschlagen wirst, Welcher Tradition du Dich anschließen wirst. Daher kann ich nicht sagen, welchen Lehrmeister du vielleicht finden wirst und wie er drauf ist. Manche mögen es nicht, wenn ihnen von einer anderen Tradition „Flausen“ in den Kopf gesetzt werden.“
„Flausen?“ Marlin hob die Brauen.
Ariana lächelte leicht. „Wir alle arbeiten mit der gleichen Magie. Aber wir haben alle unterschiedliche Vorstellungen davon, warum Magie funktioniert und wieso. Manche Traditionen haben sehr strikte Vorstellungen davon. Andere sind wieder ziemlich offen, für die Arten, die ihre Mitglieder selbst finden. Nicht alle Traditionen sind glücklich, wenn ihre Lehrlinge Ideen anderer Traditionen übernehmen. Wenn die ‚reine Lehre‘ quasi durch ein anderes Denksystem verschmutzt, bastardisiert wird. Und ich habe noch keine wirkliche Ahnung, in welche Richtung dein Talent geht und welche Art Magie dir entspricht. Daher … ich möchte dich nicht in eine schlechtere Position bringen, einen guten Lehrmeister zu finden.“
Marlin runzelte die Stirn. „Vielleicht möchte ich gar keinen Lehrmeister, der so drauf ist.“
Ariana hob leicht die Schultern. „Manche Traditionen kommen einem alt vor oder überholt, ja. Aber ich hatte Dir ja gesagt, dass ich ohne Lehrmeister gelernt habe. Das funktioniert für mich ganz gut funktioniert, aber ich muss gestehen, dass manche Leute, die mehr auf die traditionelle Art gelernt haben, auf ihre Weise robustere Fähigkeiten haben. Ich denke, meine Art hat mich besser auf das vorbereitet, was ich mache. Ich beschäftige mich mehr mit weltlichen Dingen, als wirklich sehr intensiv mit Magie und ich versuche Leute zu schützen und unseren Gegnern in die Suppe zu spucken. Dabei muss ich ständig improvisieren und auf alles Mögliche und Unmögliche vorbereitet sein. Meine Franken-Magie hilft mir dort durchaus recht gut. Aber wenn ich sehe, was formal gut ausgebildete Magier mit etwas Vorbereitung und Planung reissen können … denen kann ich einfach nicht das Wasser reichen, verstehst du?
Ich kann durchaus verstehen, wenn man keine Kompromisse eingehen will, nur um einen Lehrmeister zu finden und die Magiergesellschaft ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen, wenn das nicht schon zu positiv ausgedrückt ist. Aber dennoch solltest du dir erst ansehen, was du ablehnst, bevor du es ablehnst. Und dir nicht schon vorher alle Türen versperren.“
Marlin zog einen Flunsch und Ariana musste schmunzeln.
„Okay, und deine „Tradition“? Sind die eher so verstaubt, wie du gerade sagtest oder … anders?“
Ariana lächelte. „Die Society of Ether ist eine der zwei jüngsten Traditionen. Nicht … wirklich … zwar, weil auch die Anfänge der Society bis ins Mittelalter zurückreichen, aber sie sind die vorletzte Gruppierung, die zu den neun Traditionen hinzugestoßen ist.“
„Welches war die letzte?“
„Die Virtual Adepts.“
„Internetmagier?“
Ariana musste erneut schmunzeln. „Wenn du es so sehen willst, ja. Ein Teil von ihnen ist tatsächlich in der Lage, den Geist vom Körper zu lösen und durch das digitale Netz zu reisen. Das … ist schon beeindruckend.“
„Und deine Leute können das nicht? Was sind sie dann?“
„Verrückte Wissenschaftler.“ Ariana lächelte und sah kurz von der Seite zu Marlin.
Marlin … sagte für den Moment besser nichts. Statt dessen sah xies kurz zu Zyx und dachte an die anscheinend absurden Unterhaltungen zurück, die zwischen der Magierin und ihrer Grasnatter stattgefunden hatten.
Ariana schien den Blick zu bemerken. Jedenfalls wurde ihr Grinsen noch breiter.
„Wir haben ein eigenes wissenschaftliches Journal,“ sie sagte es, in einem vielleicht etwas lockenden Tonfall.
„Oh. Toll.“ Marlin sah wie ein Teenager aus, dem gerade ein wissenschaftliches Journal als Gipfel des Nervenkitzels präsentiert worden war.
Ariana gluckste.
„Und welche … Traditionen … gibt es sonst noch?“
Ariana machte sich daran, diese aufzuzählen.
„Die Verbena, moderne Hexen, Neuheiden, Wicca, wenn du so willst. Ihre Arbeit basiert vor allem auf der Sphäre „Life“. Leben. Der Orden des Hermes, das sind quasi das, was man sich so unter prototypischen Magiern vorstellt. Symbole, Roben, Formeln. Ihr Schwerpunkt ist die Sphäre „Forces“, Energien und Kräfte. Dann gibt es den Cult of Extacy, das sind Magier, die sehr … körperorientiert sind. Sie wirken ihre Magie in dem sie ihren Geist mit Substanzen oder mit anderen Handlungen erweitern, die einem eine andere Perspektive geben sollen. Sex, Schmerz und so weiter. Sie arbeiten vor allem mit der Sphäre „Time“, Zeit. Dann gibt es die Dreamspeaker. Sie sind am nächsten an dem, was man als Naturmagie bezeichnen würde. Auch, wenn auch das, was die Verbena machen, im Großen und Ganzen Naturmagie ist. Aber die Verbena beschäftigen sich mehr mit der stofflichen Natur und die Dreamspeaker mehr, mit dem ungesehenen, dem Verborgenen. Ihre Sphäre ist daher auch „Spirit“. Die Geisterwelt. Aber nicht nur, was man so gemeinhin unter spukenden Geistern versteht.
Es gibt die Euthanatos, die … erm … ich finde sie gruselig. Sorry. Es gibt sicherlich tolle Leute unter ihnen, aber ich finde sie gruselig. Sie wirken ihre Magie vor allem über die Sphäre, die Kräfte der Entropie. Also Zerfall, Auseinanderstreben, Zufall, Schicksal, Glück.
Dann gibt es den Celestial Chorus. Zu ihnen gehört meine Schwester. Sie wirken ihre Magie vor allem über die Stimme und ihre Sphäre ist „Prime“ also quasi die Essenz der Magie. Und dann ist da noch die Akashi Brotherhood. Sie kannst du dir quasi wie asiatische Kampfmönche vorstellen, auch wenn natürlich auch bei ihnen nicht nur Männer dabei sind und auch nicht alles Asiaten. Ihre Sphäre ist der Geist. „Mind“.“
„Und zwischen den Gruppen muss ich nun wählen?“
„Du musst nicht.“ Ariana schüttelte den Kopf und sah wieder zu Marlin. „
„Aber es wäre durchaus sinnvoll. Als Magier ohne Tradition zu sein, bedeutet auch, dass einem die Unterstützung einer Tradition fehlt. Das man ziemlich alleine steht und es gibt auch nicht viele Chantries, die traditionslose Magier aufnehmen. Es gibt auch noch Gruppierungen, die wir „Crafts“ nennen und die Hollow Ones. Die Hollow Ones sind für Magier, die keine Tradition finden oder wollen, aber, hm, es ist wie immer: selbst wenn sich Außenseiter zusammenschließen, so haben sie doch meist eine interne Struktur, die wieder nicht für alle offen ist.
Mir gefällt es auch nicht, wie es ist und ehrlichgesagt, ich tue mein möglichstes, um es zu ändern und die Leute ein bisschen mehr zusammenzubringen. Die Kooperation über die Traditionen hinweg zu stärken. Aber das wird lange dauern und es wird vermutlich eine Aufgabe sein, die ich nicht in meiner Lebenszeit beenden können werde. Von daher kann ich Dir vorerst nur den Rat geben, eine Tradition zu finden, die zu dir passt. Und mit passt, meine ich vor allem, dass sie der Form deiner Magie entgegen kommt. Welche Sphäre deine stärkste Seite ist, sollte auf jeden Fall mit in die Entscheidung für oder gegen eine Tradition einfließen.“
„Wie finde ich das heraus?“
Ariana blickte einen Moment schweigend, nachdenklich, die Straße vor sich entlang. „Ganz ehrlich, nach dem, was ich gestern gesehen habe, vermute ich dass deine Stärke im Bereich Forces liegt. Vielleicht auch Prime. Aber, der Wirbelsturm war schon ziemlich beeindruckend.“
„Also … passe ich zu Leute die Formeln und so benutzen? Und Roben tragen?“ Marlin klang skeptisch.
Ariana schmunzelte erneut.
„Es gibt auch im Orden des Hermes unterschiedliche Strömungen. Sie sind nicht alle so steif, wie es gerade klingt.“
Marlin sah skeptisch zu Ariana. „Aber …?“
Ariana murmelte das nun mehr vor sich hin, als dass sie es laut aussprach: „Aber ich hab noch keinen kennengelernt.“
„Ah-ja.“ Marlin rieb sich die Stirn.
Die Fahrzeugkonsole gab ein Zirpen von sich und Ariana drückte einen Knopf auf dem Lenkrad. „Entschuldige mich einen Moment.“
Auf dem Bildschirm in der Mitte des Armaturenbretts erschien eine Frau undefinierbaren Alters. Ihr graues Haar war zu einer praktischen Frisur kurz geschoren und ihr Gesicht hatte so viele Falten, dass es ein wenig knautschig wirkte. aber dabei freundlich und extrem entspannt. Sogar über den Bildschirm hatte der Anblick dieser Frau einen beruhigenden Effekt auf Marlin.
Sie lächelte auch kurz in Marlins Richtung, dann wandte sie sich an Ariana. In einer Sprache, die Marlin nicht direkt zuordnen konnte, aber in der Ariana anscheinend flüssig antwortete. Für den Moment konnte xies nur die Gesichter der beiden Frauen beobachten. Marlin sah, wie das der Frau auf dem Bildschirm gleichmäßig entspannt und gelassen blieb, während Arianas Gesicht im Verlauf des Gesprächs erst fast erfreut, kurz darauf aber recht unbegeistert wirkte, dann anscheinend auch etwas unsicher und schlussendlich wohl resigniert. Mit noch einem weiteren Nicken zu Marlin endete die Übertragung und Ariana atmete durch.
„Was … war das?“
„Das war Evi, die Leiterin des Chantries. Sie ist eine Virtual Adept.“
„Und in welcher Sprache habt ihr gesprochen?“
„Oh, Latein.“
„Das, wird noch gesprochen?“
„Magier. Mit einer Kultur aus dem Mittelalter.“ Ariana schmunzelte schief.
„Und ich muss das auch lernen?“
„Es wäre besser. Sehr viele Bücher sind noch in Latein geschrieben. Das heißt, eigentlich nur die, die nicht in Altgriechisch geschrieben sind.“
Marlin hielt sich den Kopf.
„Und warum hast du so komisch geschaut?“
Ariana seufzte. „Evi hat Verbündete kontaktiert und uns eine Unterkunft für einen Zwischenstop besorgt.“
„Aber?“
„Bei einer Garou-Septe. Das ist ein Zusammenschluß mehrerer Werwolf-Gruppen, sozusagen. Aber es ist eine Septe der Wendigo und … sagen wir, junge Weiße und vor allem junge, weiße Nicht-Garou sind nicht gerade die Personen, die sie besonders begeistert beherbergen. Ich muss Dich bitten, dich dort später sehr respektvoll zu verhalten.“