
Bald hatten sie Alabama hinter sich gelassen und damit auch die erste Aufregung und die erste Trauer, die Marlin noch gar nicht wirklich erfassen konnte.
Ab Mississipi zog sich die Strecke und Ariana bedauerte es, dass sie niemanden bei sich hatte, mit dem sie sich beim Fahren abwechseln konnte. Mit 16 Jahren würde Marlin zwar möglicherweise einen Führerschein haben – auch wenn Ariana das irgendwie bezweifelte, wenn sie an das Verhalten der Mutter zurückdachte – aber es war eine Sache, ein paar Fahrstunden in einem Fahrprogramm der Schule absolviert zu haben. Es war eine ganz andere Sache, einen 1,5 Tonnen geländegängigen Pickup-Truck mit 2 Tonnen Haus hintendran zu bewegen.
Marlin war irgendwann ins Brüten versunken und Ariana fiel hier wieder einmal unangenehm auf, dass sie in den letzten zwei Jahren zwar einiges an Erfahrung darin gesammelt hatte, vor Menschen zu sprechen und Menschen von einer guten Sache zu überzeugen, dass sie aber nach wie vor nicht der Typ war, der mit Smalltalk beginnen und eine Unterhaltung am Laufen halten konnte.
Alle Themen, die gerade eigentlich auf der Hand lagen – Familie, Freunde, das eigene Leben … genau das waren die Themen, über die sie im Moment selbst nicht unbedingt sprechen wollte und auch nicht mit jedem. So sympathisch ihr Marlin war. Sie kannte xies noch kaum einen ganzen Tag.
So rollten sie eine ganze Weile ereignislos – und sehr, sehr schweigsam – dahin.
Ariana stoppte an einem Diner, damit sie ein Abendessen einnehmen konnten. Später dann wurde Marlin durch die einschläfernde Gleichförmigkeit der Fahrt doch so müde, dass xies auf dem zurückgelehnten Beifahrersitz einschlummerte.
Ariana selbst fuhr bis tief in die Nacht hinein. Immer wieder legte sie mal eine halbe Stunde Pause ein, bis sie irgendwann dann doch einen Parkplatz etwas abseits der Straße wählte und Haus und Pickup dort für den Moment abstellte. Mehr als die Wegroll-Sperren am Haus unterzulegen, tat sie aber nicht. Auch sie lehnte den Fahrersitz zurück und wickelte sich dort in eine Decke ein.
Mit der ihr eigenen Fähigkeit fast überall und jederzeit einschlafen zu können war sie in nicht mehr als ein paar Sekunden weggedöst.
Zwei Stunden später war Ariana fit genug, weiterzufahren. Auf der Interstate 10, kurz vor Grenze zu New Mexiko fuhren sie mit dem Sonnenaufgang im Rücken und um sie herum wurde es belebter, als der morgendliche Berufsverkehr einsetzte. Hier waren sie mit dem knallpinken Gefährt und dem Haus hintendran eine Ablenkung auf der morgendlichen Fahrt zu Arbeit, die manche anscheinend zu gerne annahmen. Sie überholten sie so langsam, dass Ariana die Augen verdrehte und leise vor sich hinzufluchen begann.
„Wenn die so weitermachen, gibt das noch einen Stau.“
Für ein paar Minuten nahm der Verkehr wieder ab, um dann, als sie die Grenze passiert hatten, wieder zuzunehmen.
Dort setzte sich ein recht ähnlicher Pickup, nur wesentlich staubiger aussehend und mit einigen Steinschlägen und kleineren Beulen in der Karosserie, neben sie. Am Steuer sass ein Mann mittleren Alters, mit sichtlich wettergegerbtem Gesicht. Auf dem Beifahrersitz und im „Crew“-Bereich auf der Hinterbank sassen vier jüngere Männer. Alle in Arbeitskleidung und auch alle mit den deutlichen Anzeichen von Menschen, die die meiste Zeit des Tages unter freiem Himmel arbeiteten.
Sie starrten von ihren Plätzen aus auf Arianas Truck und als sie auf dem Fahrersitz eine sorgfältig zurechtgemachte, modisch gekleidete Frau Mitte 20 sahen, war die Eintönigkeit des Arbeitswegs für den Moment durchbrochen. Mehr als ein Paar Lippen wurde zum Kussmund geformt und schon offneten sich die Fenster. Zwei junge Männer hängten sich mit dem Oberkörper halb heraus und schrien Kommentare zu ihnen, die Vorschläge enthielten, was man doch zusammen tun könne, wenn sie nur rechts ranfahren und anhalten würde.
Für eine Weile sah Ariana stur voraus und auch Marlin hatte sich im Sitz zurückgelehnt und war etwas heruntergerutscht, als wäre xies gar nicht da.
Doch schließlich sah Marlin wieder die Geste, mit der Ariana kurz erst eine Hand, dann die andere vom Lenkrad nahm und ihre Armreifen und Bänder zurechtschüttelte.
Kurz darauf verlangsamte sich der Wagen neben ihnen, fiel zurück und als Marlin in den Seitenspiegel blickte, konnte xies noch sehen, wie er auf den Seitenstreifen rollte und die Männer ihre Oberkörper in den Wagen zurückzogen. Aber xies sah auch, wie Ariana kurz unterschwellig fluchte und ein Amulett, das um ihren Hals hing, berührte.
„Was … hast du gemacht?“ vermutete Marlin einfach mal ins Blaue hinein. „Und ist was passier?“
„Sagen wir … sie haben relativ kurzfristig festgestellt, dass der Tank leer ist. Und jetzt füllen sie schnell mal den Ersatzkannister nach.
„Und wo ist das Benzin hin?“ Marlin blinzelte und Ariana zuckte relativ gelassen mit den Schultern. „Ach, wir hätten eigentlich demnächst tanken müssen …“
„Äh. Was?“
„Moment.“ Ariana ließ ihr Fenster runterfahren. Dann hing sie selbst kurz halb aus dem Auto, während sie ins Freie brüllte. „Anassa kata, ihr Arschlöcher.“
Marlin zuckte zusammen. Erst als Ariana wieder auf dem Fahrersitz saß und das Fenster geschlossen hatte, murmelte xies: „Das haben die nicht mehr gehört, glaube ich.“
„Egal. “ Ariana schnaubte. „Das musste raus.“
„Warum hast du vorhin so geschaut, als hättest Du dir weh getan? Ist was schiefgegangen?“
Ariana öffnete den Mund, schüttelte dann aber erst den Kopf, bevor sie sich an einer Antwort versuchte. „An sich nicht. Es … Ich habe dir erzählt, dass die Realität es nicht mag, wenn man sie verändert. Sie … wehrt sich. Das gilt vor allem, wenn es den Teil der Realität betrifft, den wir alle auf eine ähnliche Art wahrnehmen. Die sogenannte Konsensrealität: Das Wasser nass ist und bei 100 Grad anfängt zu kochen, dass der Apfel auf den Boden fällt, die Sonne Licht abgibt, und dass, wenn man erst vor kurzem vollgetankt hatte und der Tank nun auf einmal leer ist, das eigentlich nicht sein kann.
Dieser erste Impuls ‚das kann nicht sein‘, der Unglaube, ist für uns Magier gefährlich, wenn er von nichtmagischen Personen kommt. In diesem Moment schlägt die Realität quasi zurück. Ich kann ihr immer noch meinen Willen aufzwingen, das heißt, der Kraftstoff bleibt in unserem Tank, obwohl die Realität nicht amüsiert ist. Aber ich habe quasi eine gelangt bekommen.“
„Eine gelangt?“
„Hast du schon mal an einer Batterie geleckt?“
Marlin nickte sehr langsam und auch nur millimeterweise.
Ariana hob schmunzelnd einen Mundwinkel und Marlin war ihr gleich noch etwas sympathischer.
„So in etwa fühlt sich das an.“