
Als Marlin Stunden später wieder wach wurde, war das erste Geräusch, dass xies wahrnahm, leise Klaviermusik, die durch ein Fenster, das einen Spalt offenstand und frische Luft hereinließ, zu xies drang. Xies schob sich zu dem niedrigen Fenster, zog es etwas weiter auf und spähte nach unten. Dort hatte Ariana an der Seite des Hauses eine Stange in anscheinend dafür fest angebrachte Befestigungen eingehakt und führte methodisch und ruhig Ballettübungen an der Stange durch. Nicht weit davon stand das Klapptischchen, auf dem Zyx vorher mit ihrem Drumset zugange gewesen war. Es stand immer noch an einem Fleck, der von der Sonne beschienen wurde und die Grasnatter war inzwischen anscheinend zum Chillen über gegangen. Anders konnte sich Marlin das Bild, das sich xies bot, nicht erklären und erneut kniff xies sich in den Arm, um sich zu versichern, dass xies nicht träumte.
Unter der Schlange lag ein buntes Strandhandtuch und sie trug eine winzige Sonnenbrille. Ein kleiner, bunter Sonnenschirm stand neben ihr, aber auch so, dass sein Schatten den Schlangenkörper nicht berührte. Er schien mehr zur Deko oder für Atmosphäre dort zu stehen. Ohne sich sonst weiter zu bewegen, züngelte die Schlangenzunge alle paar Sekunden in ein Mini-Cocktailglas, das noch etwa ein Viertel mit einer pinken Flüssigkeit gefüllt war. Dekoriert war es tatsächlich mit einem Zuckerrand und dem Fragment einer Kirsche auf einem winzigen Spießchen. Zusätzlich stand ein mit Wasser gefüllter Suppenteller auf dem Tisch und die winzige Quietscheente, die auf dem Wasser schwamm, verriet Marlin den Zweck … ein Swimmingpool.
Irgendwie hatte Marlin sich Magier doch auch anders vorgestellt. Mehr Harry-Potteresk. Mit Roben, in Burgen lebend und … älter. Keine, irgendwie schon durchgeknallte, Frau, die kaum ein Jahrzehnt älter sein konnte, als sie selbst, die in kurzen Röckchen herumrannte und deren Haustier ihr selbst an Durchgeknalltheit in nichts nachstand. Tatsächlich fragte sich Marlin, wer hier eigentlich auf wen abgefärbt hatte … und ob xies sich auch mal so entwickeln würde. Und wenn ja, war das schlimm?
Marlin zog sich vom Fenster zurück, um sich für einen Moment aufs Bett zu setzen und sich zu sortieren. Dort fiel ihr der Zettel neben dem Bett auf, mit dem Hinweis, dass Marlin, wenn xies aufwachte, gerne die Dusche benutzen oder sich am Kühlschrank bedienen konnte. Tatsächlich war Marlin nach einer Dusche. Die Aufregung der Nacht war im wahrsten Sinne des Wortes schweißtreibend gewesen und die Aussicht, den drückenden Staub ihres Elternhauses abwaschen zu können, hatte etwas für sich. Daher faltete Marlin schnell die Decken ordentlich zusammen und um dann geduckt die Treppe nach unten zu nehmen. Kurz inne hielt xies, als xies beim Bett, machen die Zeitschriftenstapel an der Seite in Augenschein nahm. Es war ein Stapel „Chilton’s Total Car Care Repair“ und „Haynes Repair“-Manuale aus den 70er, 80er und 90er Jahren. Also einer Zeit, in der auch Ariana noch nicht auf der Welt gewesen sein konnte … oder zumindest zu jung, um sich schon wirklich für Autos oder deren Reparatur zu interessieren.
Marlin verschob die Frage, was die Magierin mit diesen Heften wollte, auf später und kletterte in die untere Ebene des Häuschens, um mit einem Handtuch im winzigen Badezimmer zu verschwinden. Die Dusche belebte, weckte auf und machte aber auch das Surreale ein wenig realer. Und Marlin war sich noch nicht ganz sicher, ob xies bereit dafür war. Xies fand einen Föhn für das kurze Haar und frische Kleidung, aus ihrer Tasche, tat den Rest. Marlin fühlte sich bereit, halbwegs, den nächsten Überraschungen ins Auge zu sehen.
Kurz darauf kehrte Ariana ins Häuschen zurück. In einem Balletttrikot und mit Handtuch um den Hals geschlungen. Sie lächelte Marlin an, aber Marlin wurde direkt nervös, als das Lächeln zwar warm war, aber dabei auch irgendwie ernst blieb.
„Ist was passiert?“ hakte Marlin direkt nach.
Ariana nickte. „Ich weiss nicht, wie ich es sagen soll. Ich glaube, es gibt keinen guten Weg eine solche Nachricht zu überbringen … Deine Mutter hat den Besuch der Technokratie gestern nicht überlebt. Sie ist tot, Marlin. Es tut mir sehr leid.“
Marlins Knie wurden weich und Ariana war an xies Seite, fasste vorsichtig unter ihre Schulter. „Setz dich erst mal hin.“
Marlin folgte, wie von Watte umgeben. Mechanisch nippte xies an dem Glas Wasser, das Ariana xies in die Hand drückte.
„Wir hätten nicht gehen sollen. Wir hätten dort bleiben sollen.“ Es war merkwürdig. So oft hatte xies sich in dunklen Stunden gewünscht, die Mutter möge verschwinden und xies in Ruhe lassen. Es sich herausstellen, dass xies im Krankenhaus vertauscht worden war oder irgendetwas anderes, dass xies aus diesem Umfeld befreite. Aber die Nachricht zog Marlin nun den Boden unter den Füßen weg.
„Das hätte nichts gebracht, Marlin,“ bemerkte Ariana leise. „Sie hätten sie vielleicht immer noch getötet, wenn es ihnen in den Kram gepasst hätte. Wenn sie im Weg gewesen wäre. Nur hätten sie dich einkassiert, wenn sie uns dort angetroffen hätten und mich auch. Und glaube mir, es gibt Dinge, die sind schlimmer als der Tod. Und man findet sie in den Labors der Technokratie.“
„Ich … muss zurück. Ich sollte zurück.“ Das tat man doch so? Sich um alles kümmern?
Ariana schüttelte den Kopf. „Es tut mir wirklich, wirklich leid Marlin. Aber nach dem, was meine Kontakte erfahren haben, sieht alles danach aus, als stünde im Raum, dass du an der Tat beteiligt sein könntest. Ich denke, genau danach wollte die Technokratie es aussehen lassen. Es ist eine ihrer Taktiken. Sie haben auch bei mir versucht, die Ressourcen abzuschneiden, mich zu isolieren und mich auf Fahndungslisten zu setzen. Was sie damit erreichen wollen, ist dich so unter Druck zu setzen, dass du keine andere Möglichkeit siehst, als zu ihnen zu gehen. Damit sie dich entweder davon überzeugen können, dich ihnen anzuschließen oder … anderes.“
Marlin starrte Ariana an. Hauptverdächtig? Xies?
Ariana setzte sich neben ihren Schützling, ohne xies direkt zu berühren. „Ich weiss, es ist … viel. Zu viel. Ich würde gerne etwas tun, um es dir leichter zu machen. Aber nichts macht es wirklich leichter.“ Die Worte fühlten sich sauer in ihrem Mund an, denn theoretisch würde sie es Marlin leichter machen können. Aber es war ein Eingriff in den Geist. Es war nicht wirklich leichter. Es machte alles nur … unecht und würde vielleicht sogar Marlins Trauerprozess verzögern oder unmöglich machen. Mit unkalkulierbaren Auswirkungen.
„Aber was soll ich jetzt machen? Wo soll ich jetzt hin?“ langsam sickerte wohl ein, was das alles für xies bedeuten konnte.
Ariana hob eine Hand und legte sie leicht auf Marlins Arm. „Zuerst, was ohnehin das Vernünftigste gewesen wäre. Du hast vorhin gesagt, du könntest dir vorstellen, mit ins Chantry zu kommen und dort zu lernen. Dort bist du dann auch erst mal in Sicherheit. Sowohl vor der Technokratie als auch vor allen anderen.“ Sie wollte ‚vor der Polizei‘ nicht so offen aussprechen. „Und dann sehen wir, was wir tun können, um den Verdacht gegen dich zu beseitigen. So, dass du zurück kannst.“ der Rest des Satzes … und deine Mutter beerdigen, blieb unausgesprochen. Ariana selbst erstickte fast, an diesen vier Worten.
Marlin blickte auf. Sah Ariana an und schien etwas sagen zu wollen. Doch die Worte kamen nicht heraus. Dann nickte xies nur.
Ariana drückte kurz Marlins Arm. „Brechen wir auf.“