Feet of ballerina dancing in ballet shoes over a dark background

Kurz darauf war der Tisch wieder nach oben, unter die Decken, beziehungsweise den Fußboden des eingangsseitigen Lofts gezogen, dort mit Riegeln gesichert und das bisschen Geschirr abgespült und weggeräumt.

Nur, als Marlin die Sachen zurück in den Kühlschrank geräumt hatte, war xies kurz zusammengezuckt, als ein kleiner eckiger Eisbär sie beim Öffnen begrüßt hatte. Ariana hatte gegrinst und erklärt, dass es sich um eine verspielte Erinnerung zum Energiesparen handelte, die sie geschenkt bekommen hatte. „Tatsächlich zieht der Kühlschrank ziemlich Propan, solange wir Off-Grid sind. Daher bin ich nicht unglücklich, wenn der eine oder andere meiner Gäste dran erinnert wird, die Tür auch wieder zuzuklappen.“

Zyx hatte ‚geholfen‘ in dem sie einerseits unter Einsatz des ganzen Grasnatternkörpers die eigene Mini-Tasse selbst über die Kante und ins Wasser geschoben hatte und anschließend mit der Schwanzspitze auch innen getrocknet hatte. Außerdem hatte sie auf eine kleine Krone aus Schaum bestanden, die sie ebenso anmutig trug, wie eine Königin.

Marlin konnte sich kaum entscheiden, worüber xies sich mehr wundern, oder was xies mehr bestaunen sollte. Das Mini-Geschirrhandtuch in Schlangengröße, mit dem Zyx das bewerkstelligte, dass dieses Mini-Geschirrhandtuch vom Design identisch mit Arianas Geschirrhandtuch zu sein schien oder die perfekten Holz-Einsätze in den Küchenschubladen, in die Ariana das Geschirr einräumte. Sie erklärten, wieso die Magierin das Häuschen in verhältnismässig kurzer Zeit transportbereit machen konnte, ohne erst alles aufwendig und einzeln einwickeln zu müssen.

Marlin konnte dann auch nur mit sprachlosem Staunen darauf reagieren, als Ariana eine kleines elektronisches Drumset und Zyx nach draussen ins Grüne trug und beide auf einem Klapptischchen in der Sonne zurückließ. Der Kiefer Marlins klappte auch nach allem, was xies bisher erlebt und gesehen hatte, als Zyx begann, wie eine kleine, grüne Version von „Animal“ aus der Muppet Show begann ein Schlagzeugsolo hinzulegen, dass sich gewaschen hatte. Ohne Stöcke, nur mit dem wirbelnden Schwanz.

Xies klappte den Mund schnell wieder zu, als Ariana zum Häusschen zurückkehrte und einen Blick auf Marlins Gesicht in der Türöffnung gesehen hatte und nun das breite Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekam.

„Ich muss neuerdings meinen Rechner immer wegpacken,“ bemerkte die Magierin, als sie wieder ins Häuschen eintrat. „Kürzlich habe ich sie dabei erwischt, wie sie auf eine Craigslist-Suchanzeige nach einem Drummer antworten wollte.“

Marlin antwortete darauf … nichts. So ganz sicher war xies sich nicht, dass Ariana xies nicht aufzog. Auf der anderen Seite, brachte die Magierin die Behauptung mit so neutraler Stimme und ohne jedes Verziehen des Gesichts vor – und vor allem mit einem Tonfall, der das Ganze wie einen unumstösslichen Fakt klingen ließ, dass Marlin nicht wirklich davon ausgehen konnte, dass Ariana einen solchen Versuch machte.

Xies hakte es daher unter den merkwürdigen Sachen ab, die scheinbar zur Norm zu werden schienen. Seit … nicht einmal 24 Stunden.


„Dann zeige ich dir mal, wo alles ist.“ Während Ariana den Weg tiefer ins Häuschen führte, musste Marlin sich kurz innerlich die Frage stellen, was es denn noch groß zu sehen geben sollte. Immerhin sah man vom Eingang aus fast bis zum Ende. Gut, da war eine Tür und ein Vorhang im Weg. Aber sonst? Ob das vielleicht so ein Fall von „innen größer als außen“ war? Das wäre dann ja doch spannend.

Aber erst einmal lenkte etwas den Blick Marlins nach oben. Dort prangte, am Balken des Bodens des achsseitigen Lofts, – und man hatte es von der Bank an der Tür aus nicht im Blickfeld gehabt – eine Stickerei. Aber nicht nur eine Stickerei, sondern darin eingestickte LEDs funkelten in einem anscheinend zufälligen Muster auf.

Ohne es gleich selbst zu merken, las Marlin laut vor: „If you change the world, the world changes you.“ Verändere die Welt und die Welt verändert Dich.

Ariana hatte Marlin dabei beobachtet und nickte nun ernst. „Ich habe es als Erinnerung für mich selbst gestickt. Wir Magier, wir verändern die Welt sehr direkt. Wir können in die Realität eingreifen. Aber egal wo und wie wir eingreifen, was wir tun hat auch immer Auswirkungen auf uns selbst.“ Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Wenn Du so willst, ist es eine andere Variante von ‚Mit großer Macht kommt große Verantwortung‘, aber auch wieder mehr als das.  

Wir können uns in unsere Fähigkeiten verlieren. Uns verlieren. Es ist sehr wichtig, dass wir uns bewusst machen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Bevor wir einiges Tages aufwachen und feststellen, dass wir jemand geworden sind, den wir selbst nicht in unserer Gegenwart haben wollen.“ Die Ältere atmete durch. „Entschuldige. Ich sollte dich vielleicht nicht mit so vielen … Bedenken … gleich am Anfang überfallen. Es ist nicht leicht, es auch ohne erst einmal zu verdauen.“

Ohne weiter auf das Thema einzugehen, öffnete Ariana die Tür auf der Seite der Küchenzeile und ließ Marlins Blick in ein winziges, aber auch erstaunlich effizient aufgeteiltes Badezimmer mit einer Dusche, einer Toilette und einem winzigen Eckwaschbecken blicken.

„Die Toilette ist eine Komposttoilette, also auch in der Hinsicht sind wir gerade autark.“ Ariana wandte sich vom Mini-Bad ab und zum Raum mit dem Vorhang, den sie nun beiseite zog.

Hier konnte Marlin in ein Zimmerchen blicken, das vom Grundriss maximal eine halbe Armlänge länger war, als ein Jugendbett, aber kaum breiter. Trotz dessen befand sich an der Seitenwand, unter dem dortigen Fenster, ein Regal, in dem in vielen durchsichtigen Plastikkisten … Dinge … gelagert zu sein schienen. 

Aber als Marlin eintreten wollte, um sich umzusehen, hielt Ariana xies zurück. „Nur den Kopf reinstrecken, bitte und nicht die Schwelle überschreiten.“ Sie deutete nach unten, zum Boden, wo anscheinend etwas auf dem Boden befestigt war, das Marlin als LED-Schlauch wahrgenommen hätte.

„Ist es gefährlich?“ hakte Marlin nach. Die Magierin hatte bisher nicht so gewirkt, als wolle sie Marlin irgendwo draußen halten.

Ariana schüttelte den Kopf. „Nein, aber der Raum ist – magisch – auf mich eingestimmt. Das bedeutet, magische Arbeiten gehen mir darin leichter von der Hand und ich habe geringere Risiken. Aber das Einstimmen ist aufwendig und kann ausser Balance geraten, wenn andere Leute hier ein und aus gehen. Vor allem andere Magier. Man nennt einen solchen Raum auch ein Sanctum.“

„Aha.“ So ganz hatte Marlin es noch nicht verstanden, aber xies trat nur einen Schritt vor, so dass xies den ganzen Raum erfassen konnte. 

An dessen Ende, unter einem weiteren Fenster, befand sich eine, über die gesamte Breite reichende Tischplatte, davor ein bequemer Bürosessel und in der linken Seitenwand, ein eingebautes Wandregal voller Bücher, Eine Bewegung zog Marlins Blick weg vom Regal und der halb klaustrophobischen halb gemütlichen Enge des gesamten Arrangements, hin zur anderen Ecke des Schreibtischs.

Xies starrte so lange auf diesem Punkt, dass sich Ariana schließlich gemütlich an die Wand lehnte und abwartete.

„Was. Ist. Das?“ kam schließlich die erwartbare Nachfrage.

„Och, das? Lange Geschichte.“ Ariana zwinkerte der sehr lebendig wirkenden, dreidimensionalen Comic-Spinne zu, die vor Freunde über den Besuch auf ihrem Kissen dort auf- und nieder bouncte. „Ein kleines Helferlein. Sie ist toll dabei, technische Zeichnungen anzufertigen. Fast so, als würde sie aus Zeichentusche bestehen.“ Ariana spitzte die Lippen.

Marlin brauchte noch einen Moment, um den Blick loszureißen, und Ariana für einen Moment anzustarren. Das klang fast … „Sie besteht aus Zeichentusche?“

Ariana zuckte mit den Schultern. „Nunja. Sie war auf ein Blatt aufgemalt, bevor sie … lebendig … wurde, sozusagen.“

„Lebendig wurde?“ Marlin starrte.

„Sozusagen. Oder, animiert zumindest. Ich glaube nicht, dass sie atmen muss. Sie muss zumindest nicht essen. Aber sie hat Persönlichkeit.“

Die Spinne bouncte fröhlich.

„Wie …?“ Für einen ganzen Satz reichte es nicht mehr.

Ariana zuckte nur erneut die Schultern.

„Ein großes Ritual. Die Ritualführerin fand es lustig, die Zeichung einer Comic-Spinne als Entsprechung und Platzhalter für mich im Ritual zu nutzen. Und hinterher, war sie da.“ Sie deutete auf die Spinne, die nun auf ihrem Kissen einen Salto schlug. „Wenn wirklich viel Magie in Bewegung ist, passieren Dinge, die man vorher nicht erwartet hätte.“

„Aha.“ Marlin musste für einen weiteren langen Moment dorthin sehen, bevor xies auf Arianas Frage „Bereit weiterzugehen?“ reagieren konnte. Schließlich nickte xies.


Ariana ging erneut vor und diesmal stieg sie die Treppen zu dem Bereich hoch, der sich oberhalb des Bades und des Sanctums befand. Marlin blieb auf halber Treppe stehen und beobachtete, wie Ariana dort nur gebückt weitergehen konnte.

„Es ist innen nicht größer als außen?“ Marlins Stimme klang so enttäuscht, dass Ariana auflachte und sich dabei den Kopf an der niedrigen Decke anstieß.

„Au …“ sie kicherte. „Nein, leider nicht. Das heißt nicht, dass es unmöglich wäre. Absolut nicht. Aber, es bedeutet, die Realität stark und anhaltend zu verändern. Und die Realität mag es nicht, verändert zu werden. Das bedeutet, man braucht dafür ein Ritual, das fast so groß ist, wie das, bei dem die Spinne unten entstand. Mehrere fähige Magier, eine Menge Energie und einen Ort, an dem nicht auffällt, wenn man mit Magie herumwirft. Nichts davon ist leicht zu finden. Außerdem muss ich gestehen, dass ich es gemütlich finde.“

Marlin folgte bis auf die oberste Treppenstufe. Xies war noch nicht voll ausgewachsen oder wenn doch war xies auch nicht  größer als die Gastgeberin, die sich hier gar nicht mal unangenehm weit bücken musste. Xies ließ den Blick schweifen. Ein ausgezogenes Futon-Sofa nahm momentan fast den ganzen Platz ein. Rechts und links davon befanden sich fest eingebaute Ablagen, unter denen sich jeweils Zeitschriften stapelten. Auf einer Ablage stand eine Lavalampe und auf der anderen eine Lampe aus mehreren Tetris-Teilen. Zusätzlich lag auf dem Bett eine Tagesdecke auf der eine „Donkey Kong“-Level abgebildet war und ein Kissen, auf dem sich die schematische Darstellung, eines Spielecontrolers befand. 

Ins offene Innere des Häuschens hin, war das Loft mit einem Geländer abgesichert, und auf einem kleinen Vorsprung an der Seite stand eine buntbemalte Truhe.

Noch auf der Stufe stehend, drehte sich Marlin vorsichtig um, um auf die andere Seite, auf das andere Loft zu spähen. Dort sah man eine Matratze auf dem Boden liegen und gegen das Geländer gelehnt befand sich ein niedriges Regal ohne Rückwand, in dessen Regalabteilen geflochtene Körbe standen. Auf dem Regal standen zwei Lampen. Eine stellte Pacman dar, eine andere einen der Pacman-Geister.

An zwei Haken, unter der Decke zwischen den beiden Lofts hing eine aufgerollte Yogamatte.

„Du magst … alte Computerspiele?“ stellte Marlin die offensichtliche Frage.

Ariana schmunzelte. „Ich bin Computerarchäologin.“

Marlin kniff die Augen zusammen. „Was?“

Ariana grinste nun breit. „Schön, das etwas völlig weltliches die Leute immer noch mehr verwirrt, als all der magische Kram.  Das heißt, ich bin quasi Historikerin, aber nicht nur. Wie Archäologen ‚grabe‘ ich alte Sachen aus. Nur eben nicht aus dem Boden, sondern von Speichern, aus Kellern, aus Firmenauflösungen, von Flohmärkten oder von Craigslist. Und dann mache ich sie wieder funktionsfähig, so dass sie in Museen ausgestellt werden können. Ich restauriere auch alte Speichermedien, auf denen Spiele, Software oder Daten gespeichert sind und mache sie für die Zukunft zugänglich. So dass sie nicht verloren gehen, nur weil die frühen Medien nicht so robust waren.

Damit wir die Kultur nicht verlieren, die in der Frühzeit der Konsolenspiele oder generell der Computerspiele geschaffen wurden.“

Marlin sah vielleicht ein bisschen dankbar aus, als Ariana den Mund zuklappte und als das, was sich gefährlich nach dem Beginn eines Vortrags angehört hatte, doch vorerst ein Ende fand. „Ich dachte, du bist Magierin?“

„Klar, bin ich.“ Ariana nickte. „Aber wie ich vorhin schon gesagt habe … es ist gefährlich für einen Magier, sich nur mit Magie zu beschäftigen. Es ist immer gut, wenn wir noch etwas haben, das uns im Hier und Jetzt hält. Und das …“ sie machte eine einschließende Armbewegung „… war was ich gemacht habe, bevor ich erwacht bin. Es hat für mich nicht an Faszination verloren. Oder an Wichtigkeit.“

Wie viele ihrer Generation, oder vielleicht eher: jeder Generation – konnte Marlin nun nicht auf Anhieb erkennen, was am Bewahren alter Computerspiele so wichtig sein sollte, aber xies nickte.

Ariana trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. „Du siehst müde aus. Ruh dich noch ein bisschen aus. Wir können später reden, wie es jetzt genau weitergeht.“

Marlin nickte. Später würde xies sich nur vage erinnern können, sich hingelegt haben und eingeschlafen zu sein. Zu mehr, als die Schuhe auszuziehen, hatte es nicht mehr gereicht.


Previous ArticleNext Article

Kommentar verfassen

01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.