11 - Skepsis

Marlin brauchte eine Weile, sich von dem Anblick loszureissen und zu Ariana aufzusehen. Der Unterton war, trotz des Bildes vor ihr, aber weiterhin etwas distanziert. Nicht unfreundlich, aber Ariana konnte ihm ein gesundes Maß an Skepsis entnehmen. Skepsis, die sie auch zu Beginn durchaus empfunden hatte.

Skepsis, die durchaus normal war, wenn man gerade erlebt hatte, wie ein merkwürdiges Raumschiff durch das Dach eines Museums gebrochen war, … Men … nein, Wesen, in noch merkwürdigeren Raumanzügen  herausgestiegen waren und  alle, die den Zusammenbruch der Decke überlebt hatten, töteten. Wenn man dort gelegen und sich totgestellt hatte, nur um dann Stunden später aus dem zerstörten Gebäude zu wanken und von zwei Magierinnen abgefangen zu werden, bevor man sich bei der Polizei und den Rettungskräften um Kopf und Kragen reden konnte. Im Vergleich dazu, war Marlins Erwachen sanft gewesen, aber dennoch sehr verständlich mehr als verwirrend.

Vielleicht war das Neue sogar besser zu verstehen, wenn man ein extremes, außerweltliches Erlebnis hinter sich hatte, als wenn man nur eines Abends nach Hause kam und die Wut auf die eigene Mutter kaum noch unter Kontrolle halten konnte.

Ariana erwiderte Marlins suchenden, prüfenden Blick. „Meine Chantry-Leiterin hat bereits bei deiner Schule angerufen. Für die nächsten paar Tage ist deine Abwesenheit erklärt und akzeptiert. Danach müssen wir weitersehen.“

Marlin nickte langsam. „Chantry?“

„So nennen wir einen Ort, an dem eine Gruppe Magier zusammenlebt und oft auch zusammen arbeitet.“

Marlins Blick schweifte tiefer, den Gang entlang in das Tiny House hinein. So lang, oder eher kurz, wie der Gang eines Tiny Houses eben war. Aber die Frage stand unausgesprochen in den Zügen geschrieben.

Ariana schmunzelte. „Du meinst, ob das hier das Chantry ist oder warum ich von einem Chantry rede, wenn ich doch in einem Tiny House lebe?“ Das Schmunzeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Ich gehöre zu einem Chantry an der Westküste. Bei Seattle. Das ist quasi meine Heimatbasis. Das Hauptquartier. Früher war ich mit einer Gruppe unterwegs, die … aus bestimmten Gründen … mobil sein musste. Daher hatte ich mir ein Tiny House angeschafft. Eigentlich … bräuchte ich es inzwischen nicht mehr. Aber …“ sie zuckte mit den Schultern „… jetzt habe ich es und es ist durchaus hilfreich manchmal, einen mobilen Stützpunkt zu haben. Ich bin dabei eine Art Netzwerk aufzubauen. Damit Übersinnliche besser zusammenarbeiten. Dabei ist es gut, den Leuten entgegen zu kommen. Sie auf ihrem vertrauten Gebiet zu treffen, wenn man sie versucht dazu zu bewegen, eine bisher nicht dagewesene Alianz einzugehen. Aber …“ Sie hob erneut leicht die Schultern. „Das interessiert dich sicherlich noch nicht. Nach dem Erwachen hatte ich auch ganz andere Fragen.“

Ein kurzes Tippen an ihrem Handgelenk brachte Ariana dazu, nach unten zu sehen. Zyx sah zu ihr auf. Ihr Tellerchen war leer – abgesehen von den verschmähten Mehlwürmern – und die Tasse auch. Ariana goß ihr, ohne einen Kommentar, einen frischen Schluck Kaffee nach und kam Zyx Aufforderung nach einem Stück Obst und einem Stück Croissant nach.

Marlin starrte das Vorgehen erneut an, während xies anscheinend versuchte die Gedanken zu sortieren und Fragen zu formulieren. Dann deutete xies auf Zyx. „Und das ist jetzt immer so? Was gibt es noch? Trolle? Werwölfe? Vampire? Aliens?“

Ariana nickte, vielleicht zu Marlins Erstaunen. „Ja, Trolle gibt es. Sie gehören zu der Art Übersinnliche, die wir Changelings nennen. Feen in Menschenkörpern. Werwölfe gibt es. Wir nennen sie Garou. Nur, sie wandeln sich nicht nur bei Vollmond. Vampire gibt es auch, aber sie saugen normalerweise niemanden vollständig aus. Das wäre auf die Dauer doch ziemlich auffällig.“

Marlin schluckte.

„Aliens …“ Ariana wiegte den Kopf. „Kommt drauf an, was man genau darunter versteht. Wesenheiten aus einer anderen Galaxis … ich bin noch keinen begegnet, ehrlichgesagt. Aber ich würde es nicht abstreiten. Ich habe inzwischen zu viel gesehen, das ‚unmöglich‘ ist, um wirklich viel für unmöglich halten zu können.“

„Und was passiert jetzt?“ Die Stimme Marlins klang nun irgendwie … klein.

„Das hängt davon ab. Ich kann dich zu nichts zwingen. Wenn du zurückgehen willst und wieder normal zur Schule gehen willst … das ist deine Entscheidung. Aber du hast die Autos gestern gesehen. Diese Leute werden wiederkommen.“ Sie atmete durch. „Ich will dir keine Angst machen und wenn ich dir mehr davon, von ihnen, erzähle, wird es so klingen, als wolle ich dir Angst machen, um dich zu ‚uns‘ zu holen. Dich für ‚uns‘ zu gewinnen. Ich will nicht, dass du einen falschen Eindruck bekommst.“

„Vielleicht … fängst du von vorne an? Wer is ‚uns‘?“

„Uns. Damit meine ich die Traditionen. Es gibt neun Magiertraditionen, die gemeinsam in einem Rat sitzen und quasi die Geschicke der Magier lenken. Jede Tradition hat ihre eigenen Ansichten wie Magie funktioniert oder warum, wie man den Nachwuchs ausbildet, wie man mit der Welt um sich herum und anderen Übersinnlichen interagiert. Und dann gibt es noch die Technokratie. Die „Suits“ wie wir sie nennen.

Sie sind der Ansicht, dass die Menschen nichts von Magie oder Übersinnlichen wissen sollten. Dass all das Wissen in die Hand von einigen wenigen gehört und teilweise auch, das andere Übersinnliche gar nicht in diese Welt gehören. Es begann mal damit, dass die Technokratie meinte, dass man sich als Magier nicht in einem Magierturm verstecken darf, sondern die Magie anwenden sollte, um die Leben der normalen Menschen zu verbessern. Das ist eine Einstellung, der ich jederzeit zustimmen würde.“ Sie hob kurz die Schultern. „Aber dabei blieb es dann nicht. Heute sind sie dafür bekannt, Übersinnliche zu fangen, Experimente mit ihnen zu machen oder sie zu töten, oder erst Experimente mit ihnen zu machen und sie dann zu töten. Begegnungen mit ihnen sind für Traditionsmagier nicht so gesund und sie sind auch mit dafür verantwortlich, dass sich viele Traditionsmagier erst recht in sichere Gebiete zurückgezogen haben, statt auf der Erde zu agieren.“

„Statt auf der Erde zu agieren? Sagtest du nicht gerade, dass es keine Aliens gibt?“

„Ja, Aliens. Das bedeutet nicht, dass wir auf die Erde beschränkt sind. Meine Tradition, die Society of Ether, hat beispielsweise eine Basis auf dem Mond. Auf der Rückseite des Mondes, um genau zu sein. Dann gibt es andere Ebenen. Ebenen, die zu dieser Welt gehören, die aber nicht so direkt zugänglich sind, sondern nur mit bestimmten Fähigkeiten oder, wenn man die richtigen Leute kennt. Ein Teil dieser Ebenen nennt man „Umbra“ und dort befinden sich einige der größeren Chantries. Nicht, dass ich dort leben wollen würde, ehrlichgesagt, da geht es nur noch um Magie, ums Lernen und … mir ist dann doch lieber, wenn ich hier auch etwas bewegen kann. Etwas für normale Menschen verbessern kann.

Aber das ist, glaube ich, erst mal nicht das, womit du dich groß belasten solltest. Die erste Entscheidung, die du treffen solltest, ist, was du jetzt als nächsten Schritt tun willst.“

„Was soll ich denn tun? Was kann ich denn tun? Ich bin noch keine 18. Welche Wahl habe ich schon?“ Marlin klang mutlos.

Arianas Stimme klang sanft. „Tatsächlich gäbe es auch Möglichkeiten, wenn du nicht erwacht wärst, aber ich weiss, die sind schwer zu finden, vor allem, wenn man auf sich selbst gestellt ist und nicht weiss, wo man anfangen soll, zu suchen. Aber nun, unter diesen Umständen. Ich, und die Leute, mit denen ich zusammen arbeite, sind sehr daran interessiert, frisch erwachte Magier zu schützen und ihnen zu helfen, einen geeigneten Lehrmeister zu finden.“

„Lehrmeister … das klingt ein bisschen wie im Abenteuerfilm. ‚Es gibt immer nur zwei, einen Meister und seinen Lehrling‘.“

Ariana schmunzelte schief. „Es ist ein bisschen wie im Abenteuerfilm. Ernsthaft. Die Traditionen sind manchmal ziemlich verstaubt. Die Organisationsweise erinnert in manchen Bereichen ans Mittelalter.“

„Und wie ist es dann so, mit einem Lehrmeister?“

Ariana sah ganz nach einem „Ähhhh …“ aus, dann sah sie verlegen nach unten und spielte mit ihrem Frühstücksmesser. „Ich fürchte, ich kann nicht wirklich viel darüber berichten. Es ist nicht so, dass ich nicht gewollt hätte … aber ich war gut 10 Jahre älter, als ein Magier beim Erwachen normalerweise … ich hatte ein Leben, dann war ich auch noch ständig unterwegs. Es hat sich einfach nie ergeben. Ich habe von unterschiedlichen Magiern aus verschiedenen Traditionen gelernt. Sie haben mir was gezeigt, wenn ich sie gefragt habe. Ansonsten habe ich aus Büchern gelernt und auch noch von anderen Übersinnlichen. Irgendwie war die richtige Zeit für ein traditionelle Ausbildung für mich einfach verstrichen.“

„Aber für mich nicht?“

Ariana schüttelte den Kopf. „Du bist im normalen Alter. Was du jetzt vor allem herausfinden müsstest, wäre, welche Art Magier du bist, also, welche Philosophie um die Magie herum, dir entspricht. Deiner Weltsicht, deinem Charakter. Dann können wir dir helfen, einen passenden Lehrer zu finden. Und damit meine ich Lehrer im weitesten Sinne, nicht im Sinne von ‚männlich‘. Es gibt jede Art Gender oder sexuelle Ausrichtung bei uns. Wir sind ja nicht die Suits, für die die Welt wohlgeordnet und schwarzweiss ist.“

Wahrscheinlich hatte diese Bemerkung mehr dafür getan, Marlin davon zu überzeugen, sich von der Technokratie eher fern zu halten, als alle Versicherungen, dass diese Gruppierung gefährlich war, zusammen. Ariana sah jedenfalls Marlins Kräuseln der Nase, dem ein Nicken folgte.

„Aber was ist dann mit meiner Schule? Und … meiner Mutter?“ fügte xies zögernd hinzu.

Young ballerina in black costume stretching to the ceiling

„Ich denke, wir würden einen Weg finden, deiner Mutter genau das zu erzählen, was sie hören will. Ja, das ist Täuschung.“ Ariana nickte, als sie Marlins Gesichtsausdruck sah. „Und nein, auch nicht unbedingt nett. Aber was ich gestern von deiner Mutter erlebt habe … ich muss gestehen, mir ist nicht unbedingt nach ’nett‘. Sie schadet dir. Sie arbeitet ihre Wut an dir ab. Das ist nicht, was ein Elternteil tun sollte. Und ich habe eine Menge Leute hinter mir, die das genauso sehen. Meine Chantry-Leiterin ist mehr als bereit, dir zu helfen, dort rauszukommen.

Skepsis – Dances with Danger

„Ich denke, wir würden einen Weg finden, deiner Mutter genau das zu erzählen, was sie hören will. Ja, das ist Täuschung.“ Ariana nickte, als sie Marlins Gesichtsausdruck sah. „Und nein, auch nicht unbedingt nett. Aber was ich gestern von deiner Mutter erlebt habe … ich muss gestehen, mir ist nicht unbedingt nach ’nett‘. Sie schadet dir. Sie arbeitet ihre Wut an dir ab. Das ist nicht, was ein Elternteil tun sollte. Und ich habe eine Menge Leute hinter mir, die das genauso sehen. Meine Chantry-Leiterin ist mehr als bereit, dir zu helfen, dort rauszukommen.

Du kannst zum Beispiel erst mal in meinem Heimatchantry unterkommen, bis du ein eigenes Chantry oder einen Lehrmeister gefunden hast. Oder vielleicht gefällt es dir bei uns und einer der sonstigen Bewohner passt auch von der Einstellung und Ausrichtung her und du bleibst sogar bei uns.

Und auch an der Westküste gibt es Schulen. In meinem Chantry ist man der Ansicht, dass es nicht gut für Magier ist, tagein tagaus nur mit Magie und Magiern zu tun zu haben. Das heisst, eigentlich nicht nur in meinem Chantry. Es ist nicht gut für Magier, nur mit anderen Magiern und Magie zu tun zu haben. Das kann sogar sehr ungesund werden. Daher würden wir dafür sorgen, dass du dort zur Schule gehen kannst und danach auch idealerweise auf ein College. Aber das ist noch gut zwei Jahre hin, oder?“

Marlin nickte.

„Für den Anfang könntest du jedenfalls dort zur Ruhe kommen, dich neu orientieren und vor allem auch weitere Magier noch kennenlernen. Auch junge Magier.“

Marlin drehte die Tasse in den Händen hin und her. „Das … klingt gut. Denke ich.“

Ariana nickte. Deutlich erleichtert. Einen frisch erwachten Magier zurück in ein Zuhause zu bringen, dass schon so nicht sicher war und zu dem auch schon die Technokratie gefunden hatte. Sie atmete unauffällig durch. Das mussten sie noch herausfinden. Was die Technokraten der Mutter erzählt hatten. Falls sich die Mutter überhaupt daran erinnerte. Aber mit diesen Gedanken wollte sie Marlin nicht belasten.  Vielleicht etwas, das auch Zyx durch den winzigen Grasnatterkopf geschossen war, denn sie klopfte erneut um Aufmerksamkeit heischend auf Arianas Handgelenk.

„Ja, Zyx?“ Ariana blickte zu ihr. „Oh. Du willst dein Drumset. In der Sonne?  Na gut, ich bringe es dir raus, sobald auch Marlin fertig gegessen hat.“

Marlin hatte erneut, mit schlackernden Ohren zugehört. „Äh. Ich bin fertig, denke ich.“

Ariana nickte. „Okay. Dann bringe ich dem kleinen, grünen Energiebündel sein Drumset nach draussen und danach bekommst du die große Tour …“ sie machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Rests des Tiny Houses, „… und anschließend kannst du dich noch etwas schlafen legen?“

Marlin nickte.

„Dann auf.“


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.