Graceful ballerina in white tutu in the industrial background of the bridge.

Vielleicht hatte das „Schutzgebet“ die richtige Adresse gefunden. Vielleicht standen die Sterne gut. Vielleicht war es aber auch ein Mittelding zwischen, seit bald zwei Jahren auf der Wunschliste der Suits zu stehen, die Wahlfamilie an sie verloren zu haben – zumindest wahrscheinlich – inzwischen ausreichend Erfahrung im Weglaufen gesammelt zu haben und der guten alten Technik.

Na gut, vielleicht nicht wirklich der ‚guten alten‘ Technik, sondern eher der Technik, die man Schläfer eher nicht sehen ließ. Technik, die sie gemeinsam mit einigen von der Society und ein paar Virtual Adepts von Grund auf überarbeitet und dabei leicht verbessert hatte. Leicht. Zumindest dem ersten Anschein nach. 

Dabei hatte durchaus auch ein bisschen von den Suits erbeutete Technik eine Rolle gespielt … auch wenn sie immensen Aufwand betrieben hatte, um sicherzustellen, dass dort keine Hinterlassenschaften tief im Code schlummerten, die ihnen im Endeffekt in den Hintern beissen würden.

Es war ein fieberhafter Monat gewesen. Ein Monat, in dem sie zwischen einer Matratze und einem klapperigen Tisch mit ihrem Laptop darauf hin- und hergewankt war, abgesehen von einer Stunde Ballettraining, alle zwei Tage, die sie auch mehr in Trance verbracht hatte, als das sie sich hätte aktiv daran erinnern können. Ein Monat, in dem sogar die Virtual Adepts, mit denen sie zusammenarbeitete, sich besorgte Blicke hinter ihrem Rücken zugeworfen hatten. Einen Monat, in dem sie vor allem eines versucht hatte – zu vergessen. In dem sie versucht hatte, trotz allem, trotz dem Verlust ihrer Wahlfamilie und ihres Partners weiterzumachen, statt dem Impuls nachzugeben und sich einfach nur noch in einem Loch zusammenzurollen und sich zu verstecken. Oder sich gleich den Suits zu stellen, damit es wenigstens vorbei war. Oder wieder in die Umbra zu rennen, im Versuch jeden Stein herumzudrehen, jedes Ritual nochmal auszuführen und doch nur wieder zu dem Ergebnis zu kommen, dass die vier, die vorher ihre ganze Welt dargestellt hatte, nun aus dieser wie ausradiert schienen. Ohne jede Spur. Weder in dieser Welt noch in der Geisterwelt. 

Statt dessen hatte sie sich, mit einer Gruppe Virtual Adepts, in die Arbeit geworfen. In die fast unmöglich erscheinende Arbeit, ein Navigationssystem zu erschaffen, dass sie den Suits einen Schritt voraus sein lassen würde. Das sogar in der Lage war, die Voraussage zu treffen, wo in den kommenden Tagen Straßen blockiert sein würden, das auch Schleichwege auswies, Wege, die nicht nach Wegen aussahen und Orte, die als temporäre Verstecke dienen konnten. Das auch Orte markierte, an denen die Suits aufgetaucht waren und versuchte zu berechnen, wo sie möglicherweise auftauchen könnten. Auch Marlins Heimatstädtchen trug nun das blutrote Symbol der Technokratie, das alle Traditionsmagier, die Zugriff auf das System bekommen hatten. einen Bogen um den Ort machen lassen würde.

Marlin war eine ganze Weile angespannt geblieben. Erst als sie über 50 Meilen vom ihrem Ausgangspunkt weg auf den Highway gefahren waren – zur Sicherheit erst einmal in die andere Richtung – hatte xies sich entspannen können, hatte den Sitz zurückgelehnt und war eingeschlafen. Zyx war wieder unter Marlins Shirt hervorgekrochen und hatte sich auf xies Schulter zusammengerollt. Ariana hatte der Grasnatter einen Blick zugeworfen und ihr dankend zugenickt. Ihr Einsatz war sehr hilfreich gewesen, wie immer. In dem kleinen, grünen und zahnlosen Körper steckte mehr Empathie als in so manchem Menschen. 

Als sie in Atlanta angekommen waren, stellte ließ Ariana ihren Pickup langsam ausrollen, statt spürbar abzubremsen, bevor sie die Handbremse anzog und den Wagen abstellte. Mit einer kurzen Berührung ihres Armreifs unterdrückte sie die Geräusche beim Aussteigen, um Marlin nicht zu wecken. Sie verschwand in ihrem Tiny House um dort schnell in robustere Kleidung zu wechseln und mit der Checkliste in der Hand routiniert das gesamte Haus für die Fahrt bereit zu machen.

Marlin wurde nur kurz wach, als der Pickup ruckelte, als Ariana die Deichsel ihres Hauses mit der Anhängerkupplung verband. Aber sie war noch nicht ganz bei sich, als Ariana auch schon wieder auf den Fahrersitz glitt und ihr zunickte. „Alles in Ordnung. Wir fahren noch ein bisschen, bis zu einem anderen Stellplatz. Zur Sicherheit. Schlaf ruhig weiter.“

Marlins Augen klappten direkt wieder zu und Ariana stellte sich – leise – einen Podcast an. 

Auch ein halbes Jahr später, war sie immer noch mehr den Nachtrhytmus gewohnt, als über Tag wach zu sein. So hatte sie keine Probleme mit Müdigkeit, während sie mit Marlin zusammen dem Sonnenaufgang entgegenfuhr.


Der Stellplatz, den Ariana ausgesucht hatte, war abgelegen im Wald. Ein Stückchen Land, das den Eltern eines ihrer Kontakte aus der Makerszene gehörte. Für ein paar Tage würden sie hier, zur Not stehen können. Aber mit den Suits so dicht hinter ihnen, hatte Ariana nur wenig interesse daran, sich länger auf einem Fleck aufzuhalten.

So brachte sie ihr Häuschen, auch nur in halbe Betriebesbereitschaft und ließ viele der Dekogegenstände und Lampen in die Decken eingewickelt flach auf dem Boden liegen, auf dem sie die Fahrt sicher verbracht hatten, bevor sie Marlin vorsichtig wecken ging. „Kaffee?“

Marlin streckte sich, gähnte und sah sich dann erst mal in der  Umgebung um. Viel Grün und eine kleine aber verrammelte Hütte. Daneben, nicht verrammelt, aber mit  davor zur Sonne aufgestellten Solarpanelen, ein hübsches Tiny House.

Ariana nickte in dessen Richtung. „Drinnen gibt es Frühstück und eine Dusche, wenn du willst. Wir haben Wasser von einem Außenanschluß hier und der Boiler ist gasbetrieben.  Wir müssen also nicht mit Wasser oder Energie haushalten.“

„Und hier sind wir …“

„… sicher, vorerst.“ Ariana nickte. „Jedenfalls genug, um darüber zu reden, wie es jetzt weitergehen kann, eventuell ein paar Telefonate zu führen und noch etwas zu schlafen.“

Marlin grabbelte aus dem Pickup und folgte Ariana die drei Stufen hinauf in das sicher aufgebockte Mini-Haus.

Erst nach ein paar Sekunden, begann xies hastig xies Körper abzutasten.

„Wenn du Zyx suchst, sie ist hier.“ Ariana deutete auf die Küchenanrichte, wo eine Espressomaschine werkelte. Zyx befand sich davor. Halb zusammengeringelt, halb aufgerichtet und den Blick fest auf die Espressomaschine gerichtet.

„Setz dich doch.“ Ariana nickte zu einer gepolsterten Bank, die sich direkt im Eingangsbereich zwischen der Vorderwand und der Küchenanrichte befand. Ihr gegenüber an der anderen Seitenwand befand sich eine weitere Bank, zwischen Vorderwand und dem, was nach einem Kühlschrank aussah. Soweit man ihn unter der Kollektion nerdiger Kühlschrankmagnete noch ausmachen konnte. „Oder willst du lieber erst duschen?“

„Nein, etwas essen klingt gut. Ich … “ Marlin legte kurz die Hand auf den Magen, „…. Lunch in der Schule gestern war die letzte Mahlzeit, glaube ich.“

Ariana kräuselte die Nase und nickte. Als Marlin Platz genommen hatte, griff sie zur Decke über dem Eingang und löste dort einen Halterung. „Vorsicht“

Sie ließ eine Platte, deren vier Ecken mit vier Seilen befestigt waren, von dort herunter. „Wenn du kurz mal hinter dich greifst, da sind zwei Beine. Einfach an den Ecken unterklicken.“

Marlin blinzelte, als xies so quasi zwischen Wand und Tisch eingesperrt wurde, nickte dann aber und half bereitwillig mit.

Auf den – nun – stabilen Tisch räumte Ariana, was sie im Kühlschrank fand und bei einem kurzen Halt unterwegs noch aufgetrieben hatte. Frisches Brot, Käse, Würstchen, etwas frisches Gemüse und aus einer Pfanne auf dem Herd füllte sie Rührei in eine Schale und stellte es dazu.

Aus einer Schublade mit perfekt passenden Einsätzen, nahm sie einfaches Geschirr heraus, das anscheinend auf einem Flohmarkt oder Yard Sale erstanden worden war, und deckte den Tisch.

Marlin blinzelte aber irritiert, als Ariana zu den zwei großen Kaffeegedecken noch ein  winzigiges Set aus Tellerchen, Tasse und Untertasse dazu stellte, bevor sie unter dem Tisch hindurchschlüpfte und auf der Bank gegenüber Marlin Platz nahm.

Zyx schlängelte sich von der Küchenanrichte auf den Tisch und kroch direkt zu dem kleinen Gedeck, vor dem sie sich in anscheinend freudiger Erwartung wiegte.

Marlins Blick blieb auf der Szene, während Ariana einen winzigen Schluck Kaffee in die Mini-Tasse gab und mit einer Pipette noch einen Tropfen Milch hineinfallen ließ. Und als die Grasnatter sogleich einen genießerischen Schluck nahm.

Ariana griff zu einer Dose, angelte aus dieser zwei Mehlwürmer heraus, und legte sie auf Zyx Teller ab.

Die Grasnatter wandte den Kopf zu Ariana und sah sie an.

Ariana seufzte.

„Okay, okay.“ Sie schnitt eine Ecke von einer Brotscheibe ab, butterte sie und sah Zyx an. „Käse oder Rührei?“

Der Schwanz der Grasnatter beschrieb ein Zeichen in die Luft und Ariana nickte seufzend. „Gut, Käse und Rührei und Deko, ich habs ja verstanden.“

Kurz darauf lag auf Zyx Teller neben einem Eckchen Sandwich mit einem Gurkensternchen als Deko, ein kleines Häufchen Rührei und die zwei verschmähten Mehlwürmer.

Ariana sah, wie sich Marlin unter dem Tisch unauffällig in den Arm kniff und sie schmunzelte selbst in ihre Kaffeetasse hinein. Diese Wirkung hatte sie nicht zum ersten Mal auf Menschen, die sie gerade erst kennenlernten.


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.