
In der kurzen Zeit, die Marlin mit Ariana hier im Häuschen verbracht hatte, hatte xies bald bemerkt, dass es schnell ging, das Häuschen aufzuräumen und in einen akzeptablen Zustand zu versetzen. Noch schneller aber konnte sich Chaos ausbreiten und die Herrschaft über die paar Quadratmeter übernehmen. Oder wie Ariana es bezeichnete „Entropie“. Entsprechend zerrupft sah das Loft nach dem Besuch des Rudels aus und die beiden derzeitigen Bewohner machten sich an die Arbeit.
Während Ariana das benutzte Geschirr abwusch und Marlin das Abtrocknen übernahm, begann die Magierin, wie versprochen, mit Erklärungen. Zyx tanzte neben dem Becken mit einer Schaumkrone in Form einer 60er-Jahre Bienenkorbfrisur auf dem Kopf und ‚half‘, in dem sie ihre menschlichen Begleiter immer mal wieder mit dem Schwanz aus dem Spülbecken bespritzte.
„Was haben sie gemeint, von welchem „älteren Bruder“ haben sie geredet, dem du Land zurück gebracht hast?“ fragte Marlin nach einem Moment.
„Unter den Garou sind die Wendigo die „jüngeren Brüder“ und die Uktena die „älteren Brüder“. Aber frag mich nicht, wieso und ich vermute, wenn wir fragen würden, bekämen wir auch keine Antwort darauf. Jedenfalls, man hatte … meine damaligen Begleiter … und mich engagiert, um einen Spukort zu untersuchen. Was wir dort fanden … im Endeffekt war Kinfolk – das sind Angehörige, die sich nicht wandeln können – des Garou Stamms der Uktena, sehr brutal ermordet worden. Schon vor langer Zeit. Dadurch hatte sich dort eine Art Monster festgesetzt, das wir … entfernt haben. Und wir haben die Urkunden gefunden, die belegen, dass das Land den Uktena zusteht. Es war Zufall. Alles, was wir getan haben, ist, die Urkunden an die rechtmäßigen Besitzer weiterzuleiten. Immerhin ist es möglicherweise der Grund, dass sie überhaupt zugesagt haben, uns hier unterzubringen. Also beschwere ich mich nicht, dass es für sie eine große Sache zu sein scheint. Hey, lass das Zyx.“ Sie duckte sich vor Wasserspritzern weg.
„Sie haben gar nicht wirklich auf Zyx reagiert,“ bemerkte Marlin.
Ariana schüttelte leicht den Kopf. „Nicht sehr deutlich. Aber Grim Heart ist zusammengezuckt und alle anderen haben ziemlich bemüht woanders hingesehen, während Zyx gegessen hat, außer Old Prankster. Es ist auch nicht gesagt, dass alle von ihnen zu den Navajo – oder eher den Diné gehören. Sie sind in erster Linie Garou.“
Marlin nickte leicht und öffnete den Mund für die nächste Frage. Ariana blickte xies schmunzelnd von der Seite an.
„Ich weiß, das alles ist sehr spannend. Vor allem, wenn man rausschieben kann, über die eigenen Fähigkeiten nachzudenken.“
Marlin klappte den Mund wieder zu.
„Glaubst du daran, dass es Magie gibt und du bereits Magie gewirkt hast?“
Marlin zögerte einen Moment, nickte aber.
„Gut. Das ist ein Schritt. Glaubst du, dass du die Realität verändern kannst?“
„Aber du hast doch gesagt …“
„Ja, ich weiß, was ich gesagt habe. Aber das ist der zweite Schritt. Damit sich die Konsensrealität gegen den Eingriff eines Magiers wehren kann, muss dieser zuerst in die Realität eingreifen. Sie verändern. Also, glaubst du, dass du die Realität verändern kannst?“
Wieder zögerte Marlin einen Moment und schüttelte dann den Kopf.
Ariana nickte verstehend.
„So ging es mir zu Beginn auch. Es ist schwer zu verstehen. Zu verinnerlichen. Es ist anders, als man es in Geschichten liest, in denen man ein paar Zauberformeln lernt und dann die dazugehörigen Effekte hervorruft. Wir können — theoretisch — mit der Realität tun, was wir wollen, wie wir wollen und wann wir wollen.“ Sie hob einen Teelöffel hoch und wartete ab, bis Marlin auch darauf blickte. Vor ihrem Auge wandelte sich das Metall um. Wurde durchsichtig. Flüssig. Dann platschte das eben noch löffelförmige Wasser in das Spülbecken.
Ariana sah dem Löffel hinterher, dann einen Moment schweigend auf das Spülbecken, bevor sie ihre Stirn gegen den Schrank neben der Spüle lehnte. „Das … war jetzt nicht nachgedacht.“
Marlin hatte noch eine Sekunde länger gebraucht, um das Gesehene zu verarbeiten. Dann sah xies zu Ariana und fragte ahnungslos: „Kannst du ihn nicht einfach zurückwandeln?“
„… theoretisch. Die Frage ist nur, wie ich Wasser-Wasser von Löffel-Wasser unterscheiden soll, jetzt, wo beides Wasser ist.“
„Dann einfach aus dem Wasser einen neuen Löffel machen?“
„Nein … “ Ariana seufzte. „Ich kann solche Umwandlungen noch nicht permanent machen. Das heißt, wenn ich das mache, haben wir in ein paar Wochen einen nassen Fleck in der Besteckschublade. Schlimmstenfalls wandelt er sich zurück, während ihn jemand benutzt. Und wenn ich den Stöpsel ziehe … normalerweise würde ich das Grauwasser einfach ablaufen lassen. Dort versickert es dann im Boden und … irgendwann gräbt dort jemand und gräbt einen Löffel aus. Aber zum Glück hab ich hier einen Auffangbehälter angeschlossen. Dann muss ich jetzt nur den Inhalt ein paar Wochen mitrumschleppen und dann dran denken, den Löffel rauszufischen.“
Marlin konnte nicht anders und musste grinsen.
„Die erste Lektion war also: Sei vorsichtig, was du tust und wo, denn dein Begleiter für die nächsten paar Wochen könnte ein Abwasserbehälter sein?“
Ariana verdrehte die Augen. „So viel zu folgsamen, unterwürfigen Schülern. Aber ja, lerne aus den Fehlern deines Meisters, junger Padawan.“ Sie streckte Marlin die Zunge heraus.
Marlin kicherte und trocknete den nächsten Löffel ab, den Ariana hinhielt.
„Gut. Zurück zum Thema. Du kannst es also noch nicht glauben und das ist normal. Es ging mir auch nicht anders, zu Beginn.“
„Echt?“ Marlin linste zu Ariana.
„Nein. Ganz ehrlich, eine Weile habe ich mich davor gedrückt, überhaupt zu lernen. Ich hatte gehofft, dass vielleicht alles wieder normal wird. Aber das wurde es nicht.“ Sie sah ernst zu Marlin. „Das wird es nicht.“
Marlin schluckte.
„Was du brauchst, ist ein Paradigma. Eine Philosophie, die dir selbst erklärt, warum Magie funktioniert.“
„Gibt es dazu keine Bücher? Wie … es gibt Schwerkraft, weil die Erde Masse hat? Oder so?“
Ariana hob einen Mundwinkel. „Wie sehr ich mir ein solches Buch gewünscht hätte. Aber nein. So was gibt es nicht. Wir arbeiten zwar alle mit der gleichen Magie, aber die Erklärung, warum sie funktioniert, ist individuell. Paradigmen können sich ähneln, aber keine zwei Paradigmen sind identisch. Du erklärst dir selbst, warum es Magie geben kann, wie und wodurch sie wirkt. Das muss nicht gleich perfekt sein. Im Gegenteil. Je weiter du auf deinem Weg vorankommst, um so entwickelter, ausgefeilter wird dann Paradigma sein. Du kannst dann in einer Sphäre mehr bewirken, wenn du eine neue Einsicht in sie erlangt hast und sich dein Paradigma verfeinert.“
„Und was hast du für ein Paradigma?“ hakte Marlin nach.
Ariana schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Das erzähle ich dir, wenn du dein eigenes Paradigma gefunden hast. Für den Moment würde ich befürchten, dass du dich zu sehr daran orientierst und versuchst dein eigenes Paradigma an dem einzigen anderen Paradigma zu formen, das du bisher kennst.“
Marlin zog einen Flunsch.
„Die Sphären, ich hatte dir davon schon im Zusammenhang mit den Traditionen erzählt. Es gibt neun. Correspondence – Raum und Verbindung, Entropie – Zufall, Schicksal und Zerfall , Forces – Energien, Life – Lebewesen, Leben, Heilung aber auch das Gegenteil, Matter – unbelebte Materie, Mind – Bewusstsein, Wahrnehmung und so weiter, Prime – eine Urenergie oder vielleicht auch Magie selbst, Spirit – Übersinnliches, im weiteren Sinne, verborgene Reiche, vergessene Wesen, Time – nun, selbsterklärend. Und manche reden auch von einer zehnten Spähre, aber welche und was sie sein soll, darüber gibt es hitzige Debatten.
Deine Stärke liegt vermutlich bei den Energien. Aber das Problem ist, dass du mit einer Sphäre alleine meist wenig erreichen kannst. Du kannst zwar einen Wirbelsturm erschaffen, der alles Mögliche mit sich reisst, aber wenn du eine Kiste schweben lassen willst, musst du nicht nur verstehen, wie du Kräfte beeinflusst, sondern auch, wie du sie auf Materie wirken lässt und dafür musst du Matter beherrschen.
Apropos.“ Sie zog ein Glas aus dem Becken und hielt es, noch tropfend, über den Fußboden. „Halt mal in der Luft fest.“ Sie ließ das Glas los.
Marlin starrte überrumpelt, hechtete dann danach und fing es in letzter Sekunde auf.
„Immerhin gute Reflexe,“ kommentierte Ariana das trocken. „Nächstesmal dann mit Magie.“