23 — Epitropē

Der nächste Tag begann langsam und nicht sehr früh. Als Marlin endlich eingeschlafen war, war Ariana neben dem Bett sitzen geblieben und hatte dort an ein Sitzkissen gelehnt geschlafen. Welches Geheimnis sie hatte, dass sie am nächsten Tag relativ frisch aussah – frischer als Marlin jedenfalls – war xies ein Rätsel.

Immerhin hatte das Frühstück und eine Dusche die Lebensgeister wieder geweckt.

Ariana hatte Marlin vorgeschlagen, sich mit einer Liege an die frische Luft zu legen, die verweinten, geschwollenen Augen zu kühlen und sich auszuruhen. Wenn xies, die Magierin hatte darauf bestanden, am Nachmittag etwas für die Schule lernte. Auch, wenn xies noch nicht wusste, wann xies wieder zur Schule gehen würde — oder wo. Marlin hatte sich nicht ungerne darauf eingelassen. So wüsste xies wenigstens etwas mit sich anzufangen.

Ariana ihrerseits, hatte ihre Ballettstange am Äußeren ihres Häuschens eingehängt und aus einer Yogamatte temporär ein Stück festen Boden gezaubert. Wortwörtlich.

Zyx, der das ‚Gehopse‘ zu anstrengend war, hatte sich auf Marlins Brustbein zusammengerollt und spielte Emotional-Support-Grasnatter.

Es sah alles recht friedlich aus. Marlin, den Klavierklängen lauschend, während Ariana ihre Übungen an der Stange machte und das alles gut 100 Meter von der Ansiedlung entfernt, in der man sie heute Nacht ‚beschnuppert‘ hatte. Auch das wortwörtlich.

Es war Zyx Klopfen auf xies Brustbein, das Marlin die kühlende Kompresse abnehmen ließ.

Marlin sog Luft ein, als am Rand der kleinen Lichtung das gesamte Rudel von gestern versammelt stand und auf xies, das Häuschen und Ariana an der Stange blickte. Marlin setzte sich langsam auf. Vorsichtig, damit Zyx nicht herunterrutschte.

„Ariana?“

„Ja?“ Ariana drehte sich um und bekam größere Augen.

„Haben wir jemanden gestört? Wenn das so ist, entschuldige ich mich natürlich.“ Sie machte die Musik aus.

Es war erneut Iaras Lächeln, das andeutete, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war.

Der Anführer fragte nur, kurz angebunden: „Gibt es einen Ort, an dem wir reden können? Ihr Ruhe.“

Ariana nickte sofort. „Natürlich. Bitte.“ Sie deutete auf den Eingang. „Marlin, kannst Du sie bitte ins Loft führen? Ich komme sofort nach.“ Sie bückte sich, um die Ballettschuhe aufzuschnüren.

Marlin sprang auf, nachdem sich Zyx unter xies Kragen verzupft hatte und ging einigermaßen nervös vor. „Wenn Sie mir folgen würden?“

Das Rudel folgte ins Tiny House.  In der gleichen Konstellation wie gestern, mit einem Timberwolf bei ihnen. Iara und Hugh sahen sich freundlich, neugierig um, Grim Heart schien inzwischen von ihrer Haltung fast bei den Beiden angekommen zu sein. Chants-At-Sunrise wirkte weiterhin neutral und fast gleichgültig, der Timberwolf schnüffelte automatisch und schnaubte etwas und die Miene des Anführers war unlesbar.

Oben im Loft angekommen warfen sie ihre Blicke skeptisch in den kleinen Raum hinein. Eine stumme Absprache mit Blicken ließ den Platz auf dem nun zusammengefalteten Futon-Sofa dem Anführer, aber es blieb noch genug Platz für Chants-At-Sunrise. Die anderen setzten – und im Falle des Timberwolfs legten – sich auf den Holzboden. Iara lies ihre Hand neugierig über die gewachste Oberfläche gleiten, während der Anführer ein wenig abschätzig die Lava-Lampe musterte, die in einer Ecke blubberte und die übrige popkulturlastige Dekoration.

Ariana war ihnen, nachdem sie die Spitzenschuhe aufgeschnürt hatte, ins Haus gefolgt und hatte sich kurz mit einem feuchten Handtuch abgerieben. Sie streckte nun den Kopf über den Rand des Lofts. „Was darf ich zu trinken anbieten? Wir haben Kaffee, Tee, Milch, Apfelsaft und Wasser.“

Bevor der Anführer für alle ablehnen konnte, lächelte Iara. „Tee, danke.“ Und Hugh schob direkt ein „Für mich einen Kaffee hinterher.“ – „Schwarz, Grün, Weiß, Kräuter?“ – „Kräuter, danke.“ Iara lächelte. 

So ganz schien dem Anführer das Vorpreschen seiner zwei Rudelmitglieder nicht zu passen, dem Gesichtausdruck nach zu urteilen, aber nachdem der Anfang gemacht war, nahm auch er an. „Tee. Den Gleichen.“ Mit den Bestellungen, auch Marlins, verschwand Ariana nach unten.  Gleich hörte man Geschirrklappern, das Geräusch der Espressomaschine und wie Wasser in einen Kessel gefüllt und eine Herdflamme entzündet wurde. Oben breitete sich derweil unkomfortables Schweigen zwischen Marlin und den Garou aus, während xies fieberhaft überlegte, wie oder wodurch man ein Gespräch in Gang bringen konnte.

Iara griff ungeniert nach dem Stapel Reparaturmanuale und blätterte das Oberste, unter dem missbilligenden Blick ihres Anführers durch.

Das Schweigen wurde unterbrochen, als Arianas Kopf wieder über dem Rand des Lofts auftauchte und sie Marlin ein Tablett reichte, auf dem sich Milch, Zucker, Honig, ein paar Schnitzen Zitrone – man konnte ja auch bei Kräuterteetrinkern nie wissen – sowie Teetassen und -löffel befanden. Außerdem eine Schale mit Macarons.

Trotz des weiterhin düsteren Blicks des Anführers nahm sich Chants-At-Sunrise einen Macaron, nachdem Marlin das Tablett, so gut es ging bei dem knapp werdenden Platz, in die Mitte gestellt hatte, und knabberte ungerührt daran herum.

Ariana hatte gerade die ersten zwei Tassen Kaffee nach oben gebracht und füllte heißes Wasser in die Teekanne, als draußen eine alter, aber perfekt in Stand gehaltener, feuerwehrroter Alfa Romeo Spider-Zweisitzer neben ihrem Pick-Up anhielt. Bei dem überraschenden Besuch und dem hier so unerwarteten Anblick fiel ihr beinahe die Teekanne  aus der Hand. Die Fahrerin des Sportwagens, stieg aus und steuerte auf den Eingang des Häuschens zu. Auch sie war sichtlich ein indigene Amerikanerin, aber anders als das Rudel, trug sie nicht mehr oder weniger traditionelle Kleidung, sondern einen gut sitzenden grauen Hosenanzug.

Bis die Frau an der Eingangstür anklopfte, hatte sich Ariana wieder soweit gefangen, ihr „Herein“ zuzurufen. Die Frau trat ein und dann auch den Meter auf Ariana zu. Sie hielt ihr die Hand hin. 

„Races-for-Justice … oder einfach Mai.“ Sie lächelte.

Ariana schüttelte die angebotene Hand. „Ariana. Mends-the-Weaver. Freut mich.“

Mai nickte. „Die Anderen sind oben?“

Ariana nickte und trat zur Seite um sie passieren zu lassen.

„Ich nehme auch einen Kaffee, danke.“ Mai ging mit einem Schmunzeln weiter, um kurz vor der Treppe nach oben inne zu halten und für einen Moment die Stickerei am Balken zu mustern. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück zu Ariana – vielleicht nachdenklich – dann stieg sie die Stufen hinauf.

Oben begann hörbares Herum- und Zusammenrücken, als der Platz nun wirklich, für die Zahl der Anwesenden, reichlich knapp wurde und ein paar Worte auf Navajo wurden gewechselt.


Ariana trug die Teekanne und die letzten Tassen Kaffee nach oben und wollte sich dann gerade ebenfalls dazu setzen – zumindest auf die oberste Treppenstufe, als sich Zyx aus Marlins Kragen hervorreckte und sie ansah.

Ariana erstarrte und linste kurz zu den Garou, bevor sie wieder zu Zyx sah. Aber Zyx machte gar keine Anstalten, sich wieder aus dem Blick des Rudels herauszubewegen. „Zyx …“

Zyx starrte sie mit unbewegtem Blick an.

„Zyx …“

Die winzige Grasnatter machte sich noch etwas größer.

Ariana ließ die Schultern sacken,  drehte sich um und stapfte die Treppe wieder nach unten.

Mai, die sich inzwischen Milch und Zucker in ihre Tasse gerührt hatte, murmelte mit einem Schmunzeln: „Das wird definitiv interessant.“

Ariana kehrte mit Zyx Mini-Tasse und ihrem Mini-Teller zurück. Sie wollte ihn am Rand des Lofts abstellen, aber Zyx ruckte kurz mit dem Kopf in die Mitte der Versammlung. Mit einem Seufzen schob Ariana beides zwischen Marlin und Hugh. Mit einer Pipette füllte sie Zyx Tasse aus ihrer eigenen und sie gab ihr ein Stück von ihrem Macaron ab.

Zyx glitt besonders majestätisch von Marlin herunter, zu ihrem Gedeck und nahm einen genießerischen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Die Blicke der anwesenden Garou folgten ihr.

Mai war die erste, die sprach. „Dem ging sicherlich eine faszinierende Geschichte voraus.“

Ariana nickte leicht. „Ja.“ Dann atmete sie durch. „Was verschafft uns die Ehre des Besuchs? Haben wir jemanden gestört? Wenn, dann war das nicht unsere Absicht.“

„Nein, nein …“ begann Mai, brach dann aber unter dem Blick des Anführers ab.

Der nahm sich Zeit, trank einen Schluck Tee und ließ den Blick durch das Tiny House wandern, bevor er zu Ariana blickte. „Ich halte es, ehrlichgesagt, für keine gute Idee. Aber meine Galliard,“ er blickte zu Mai, „ist der Ansicht, dass ihr uns bei einem Problem unterstützen könntet.“

Ariana sah überrascht zwischen Mai und dem Anführer hin und her. Überrascht, zum einen wegen der Aussage und zum anderen überrascht, dass er „Races-for-Justice“ seine Galliard, also seine Bardin, nannte. Ariana hätte auf eine andere Aufgabe im Rudel getippt.

Dann nickte sie aber sofort. „Wenn ich das kann, unterstütze ich sie natürlich gerne.“

Der Anführer verzog die Lippen etwas säuerlich. „Races-for-Justice.“

Die Galliard sah sichtlich erleichtert aus, dass nicht mehr von ihr erwartet wurde, den Mund zu halten. „Ein Teil unseres Gebietes ist von Espenbäumen bewachsen. Vielleicht habt ihr davon gehört, dass diese Baumart weit verzweigte Netzwerke bildet. Eigentlich sind alle Bäume eines Gebietes, das hunderte Quadratkilometer umfassen kann, ein einziger Organismus. Das bedeutet aber auch, was diesen Organismus an einer Stelle betrifft, wirkt sich auf den gesamten ‚Körper‘ aus.

Seit einiger Zeit scheinen die Espen abzusterben oder zumindest schwer krank zu sein. Es betrifft, wie gesagt, ein großes Gebiet und das ist mehr als dramatisch.“

Ariana nickte. „Die Ursache ist noch nicht bekannt?“ Es klang nur halb nach einer Frage.

„Sehr oft sind illegale Bergwerke die Ursache. Beziehungsweise die Chemikalien, die diese Verbrecher einbringen, um unsere Bodenschätze zu stehlen.“ Sie verzog das Gesicht abfällig und auch etwas wütend.

„Aber das ist es nicht alleine? Ich meine, solche Grabungen alleine, sie würden kaum ein Problem für ein Rudel Garou darstellen …“

Der Anführer sah aus, als habe er in einen schimmligen Apfel gebissen, aber Mai nickte sofort.

„Das ist es nicht alleine. Wir haben das Problem … oder Nascha – Chants-At-Sunrise – und Raven Blade,“ ihr Blick glitt zu dem Garou in Wolfsform, „dass irgendetwas ihren Blick auf die Situation verhindert. Sowohl in der Umbra, als auch außerhalb.“

Chants-At-Sunrise, oder Nascha, wie Mai sie genannt hatte, nickte leicht, zustimmend.

„Und wir haben ein wirklich großes Gebiet abzusuchen. Bis wir ein illegales Bergwerk zu Fuß aufgespürt haben, sind sie bereits über alle Berge. Daher dachten wir, dass Magier, noch dazu mit Eule verbündete Magier, vielleicht noch andere Mittel haben, etwas herauszufinden. Außerdem …“ Ihr Blick streifte kurz den Anführer, der direkt säuerlich blickte. „… schadet es nicht, wenn jemand mit Technikverstand Beweise sichern kann. Ich führe derzeit einige Prozesse, um den Diné zustehende Ländereien in unseren Besitz zurück zu klagen. Ich werde zu gerne jeden vor Gericht zerren, der sich hier bei uns einschleicht, um sich zu bereichern.“

„Auch das kann ich leisten.“ Ariana nickte. „Was ist genau der Plan?“

„Wir werden beim Morgengrauen aufbrechen um uns dem Gebiet zu nähern, in dem wir nicht durchdringen können,“ lam es nun von Iara.

„Dann werde ich zum Morgengrauen bereit sein.“ Ariana neigte den Kopf.

Der Anführer hob eine Braue und ließ den Blick von ihr zu Marlin schweifen.

Ariana wurde eine Nuance blasser.  „Marlin ist gerade erst erwacht und hat noch keinerlei Erfahrung … Wir haben bisher nicht mal die absoluten Grundlagen besprochen. Ich begleite euch gerne, aber Marlin sollte …“

„Ihr lasst eure Nachkommen in Unwissenheit?“ Er klang halb ungläubig, halb abfällig.

„Nein, es ist nur, ich bin nicht die Richtige. Marlin hat nicht meinen Schwer …“ Unter dem Blick des Anführers verstummte Ariana.

„Ihr habt bis zum Morgengrauen Zeit, das Versäumte nachzuholen.“


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.