Selbst an dem Ort, an dem sie aufgewachsen war, hatte sie mehr Leben gespürt. Oder mehr Destruktion. Jedenfalls überhaupt etwas. Hier. Fast kam es ihr vor wie ein Ort, der Emotionen aufsaugte, aber nicht mehr abgab. Ein schwarzes Loch der Gefühle. Wie Marlin hatte hier so lange überleben können, war ihr ein Rätsel.
Ihr erster Impuls war, weiterzurennen, die Tür einzutreten – sofern sie das mit ihrer Kraft überhaupt schaffen würde – Marlin rauszuholen und mit xies zusammen davon zu rasen.
Aber sie musste das schlauer angehen, wenn sie nicht wollte, dass ihr die Sache hier mit einem Knall um die Ohren flog und nicht nur die Suits hinter ihr her waren. Marlin war, soweit sie das sagen konnte, nicht älter als 16 und Kindesentführung war ein ernstes Verbrechen. Auch wenn sie den Eindruck hatte, dass in diesem Fall nur wenige Entführer vorstellen konnte, die schlimmer sein konnten, als dieses … schwarze Loch.
Okay, das war gelogen. Eigentlich kannte sie nur Entführer, die schlimmer waren, als das hier und Entführte, die mehr als nur durch die Hölle gegangen waren.
Das änderte nichts daran, dass sie einen Plan brauchte, wollte sie nicht ganz oben auf der „Wanted“-Liste des FBI landen und in der Folge ihren Feinden noch den roten Teppich zu ihr ausrollen.
Sie blickte sich um, drehte sich dabei auch um die eigene Achse. Die umliegenden Häuser entsprachen vom Eindruck her der unteren Mittelschicht. Sie sahen mehrheitlich gut in Schuss aus, vielleicht hätte eine Wand oder ein Zaun hier und da etwas frische Farbe vertragen können, aber fehlende Mittel und beginnende Armut war hier noch versteckt genug, um nur dem geübten Auge aufzufallen. Gerade weil man sich bemühte, die Fassade aufrecht zu erhalten, war die Vorgärten sehr gepflegt und kein Müll lag herum. Nicht einmal die Mülltonnen standen zugänglich am Wegrand.
Ariana fluchte. Gerade, wenn sie mal etwas Unordnung und Abfall gebrauchen konnte. Zum Auto zurück zu gehen, würde zu viel Zeit kosten. Das sagte ihr nicht zuletzt Zyx ungeduldiges Schwanzklopfen auf ihrem Schlüsselbein.
Aber halt. Sie ging fünf Schritte zurück und spähte in einen Vorgarten. Gerade außerhalb der sparsam verteilten Straßenbeleuchtung hörte sie es plätschern.
Es war ja nicht so, dass sie Materie mit einer bestimmten Eigenschaft brauchte. Jede Materie tat es und Wasser war nun einmal Materie. Die hier, gerade, in ausreichender Menge über einen kleinen Zen-Brunnen floss. Gerade, als Ariana das Armband mit den daran hängenden Charms berührte, die aussahen, wie einzelne Täfelchen aus dem Periodensystem der Elemente, schaltete eine Zeitschaltuhr anscheinend den kleinen Brunnen ab und das Wasser versiegte.
„You must be fuckin‘ kiddin‘ me,“ murmelte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und ihre freie Hand legte sich nun um den Kupfer-Armreif, mit der eingeätzten Formel für Kraft und Beschleunigung am anderen Handgelenk, während ihr Bewusstsein dem Kupferkabel bis hin zum Schalter folgte. Das Relais war denkbar einfach – billig, sozusagen – und ein minimaler Impuls genügte, um das Wasser wieder fließen zu lassen. Sie biss die Zähne zusammen, in Erwartung eines Backlash, falls jemand im Haus bemerkte, dass der Brunnen entgegen der voreingestellten Uhrzeit wieder angesprungen war, doch zu ihrem Glück passierte … nichts.
Noch ein vorsichtiger Blick, während sie selbst darauf achtete, nicht im Schein der Straßenbeleuchtung zu stehen. Dann fühlte sie nur kurz die Feuchte in ihrer Handfläche, bevor sie daraus direkt etwas festes wurde, scheinbar stabiles. Wer im Dunklen oder Halbdunkel nicht so genau hinsah, würde es für ein Klemmbrett halten. Nur, war der oben anscheinend angeklemmte Kuli lediglich ein Kunststoffknubbel ohne Funktion und auch sonst war entbehrte das Gebilde einer gewissen Eleganz. Aber darauf kam es jetzt nicht an, sondern nur auf den oberflächlichen Eindruck. Ein zweiter Schwall Wasser und sie steckte sich eine Badge an die Bluse, mit einer geistigen Notiz, dass es vielleicht gar nicht blöd wäre, eine Blanko-Badge mit ihrem Foto zumindest im Pick Up liegen zu haben. Man wusste ja nie. Heute musste sie einfach darauf zählen, dass niemand zu genau hin sah und der Ansatz eines Plans, den sie sich überlegt hatte, funktionierte.
Sie musste nochmal durchatmen, bevor sie auf Marlins Elternhaus zugehen konnte – so gruselig war dessen Ausstrahlung, die noch zunahm. als sie die Schwelle zum Vorgarten überschritten hatte.
Hier sah man mehr Anzeichen von Vernachlässigung, als bei den umliegenden Häusern. Die Fenster waren stumpf und könnten dringend eine Wäsche gebrauchen, ebenso wie die teilweise heruntergelassenen Jalousien eine Reparatur. An einigen Stellen hatten sich spinnwebenartige Risse in der Wandfarbe gebildet, die man sogar im Zwielicht der Straßenbeleuchtung noch erkennen konnte.
Gerade als Ariana auf den kleinen Absatz vor der Haustür getreten war, hörte sie von drinnen eine aufgebrachte Stimme. Marlin.
Ihre innere Anspannung nahm zu. Sie musste verhindern, dass Marlin im Erwachen magisch um sich schlug oder jemanden angriff. Während sie den goldenen Anhänger, in Form einer Synapse, an ihrer Kette berührte, konzentrierte sie sich auf die Emotionen aus dem inneren des Hauses. Halb befürchtend, dass sie eine ähnliche Atmosphäre, wie sie von Außen wahrgenommen hatte, gleich treffen würde wie ein Schwall Eiswasser.
Zuerst nahm sie Marlin wahr. Aufgebracht. Brodelnd. Die Magie dicht unter der Oberfläche. Hier spürte sie tatsächlich, wie das späte Klingeln sie für den Moment aus dem Konzept brachte und die sich aufbauende Wut für den Moment etwas zurückzuziehen schien.
Die andere Präsenz jedoch …
Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, war dieses … Nichts … diese Wegsaugen von Energie, Emotionen … wie ein Tritt in die Magengrube. Wie hielt Marlin das aus? Wie konnte xies in dieser Umgebung überhaupt noch so viel Kraft finden um wütend zu werden?
Aber wie immer, wenn es nicht so richtig gut aussah, wenn es schien, als würde es knapp werden, gefährlich, kickte in ihr etwas ein, das sie nicht zurückweichen lassen würde.
Nach einem Moment näherten sich von innen Schritte. Dann öffnete sich die Tür und eine Frau von vielleicht Anfang 40 stand dort. Der Gesichtsausdruck so leer jeder Emotion, wie die Energie des Hauses. Ebenso wie ihre Kaufhauskleidung bar jeder Persönlichkeit war. Ariana war mit abgelegter Kleidung aus den Second Hand Shops groß geworden und neue Kleidung, selbst billige, war ein Luxus gewesen. Aber auch unter gebrauchter Kleidung fand man immer etwas mit Charakter. Wie diese Frau es geschafft hatte, ihre Kleidung so zu wählen, dass sie nichts offenbarte, keinerlei Persönlichkeit, war ihr ein Rätsel.
Aber sie dankte der eigenen Geistesgegenwärtigkeit, beim hastigen Griff nach frischer Kleidung nicht nach einer bunten Strumpfhose gegriffen hatte. Mit ihrem mittelgrauen Rock, einer weißen Bluse und einer eher neutralen Strumpfhose sah sie so mausig aus, dass man ihr die Rolle, die sie zu spielen gedachte, hoffentlich abnehmen würde. Auch Zyx hatte sich, wohlweißlich und ohne aufgefordert werden zu müssen, in ihrem Nacken unter ihrem Haar versteckt.
„Guten Abend Miss Anderson. Mein Name ist Austen, von der Jugendbehörde. Es tut mir leid, sie so spät zu stören, aber ich wurde angerufen, es soll lauter geworden sein und das nicht zum ersten Mal? Sie haben einen Ruhestörer unter ihrem Dach?“ Ariana lächelte gewinnend und etwas mitfühlend. Der Ausdruck in ihren Augen blieb aber kalt.