Graceful slender ballerina dancing in studio, close-up

Arianas Gegenüber zögerte. Natürlich.

Jeder Mensch mit Verstand würde zögern, wenn er mitten in der Nacht auf offener Straße von einer sichtlich Ortsfremden in einem fetten und ziemlich neuen Pickup-Truck angesprochen werden würde. Einer Fremden, die zwar zierlich aussah, aber wer wusste schon, wer sich in diesem Pick-Up noch versteckte und ob sie vielleicht sich gerade nur zeigte, um das zukünftige Opfer in Sicherheit zu wiegen.

Ariana sah verständnisvoll aus. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch ein ungutes Gefühl, so mit dem Teenager auf der Straße.

„Wenn ich darauf aus wäre, dich zu entführen und sich böse Männer im Fußraum verstecken würden, um dich zu packen … das hätte längst stattfinden können. Ich kenne diese Art Käffer hier. Nicht mehr klein genug, für eine Ortsgemeinschaft, über die einzelnen Kirchengemeinden hinaus. Gerade so groß, dass kaum einer einen Finger rühren würde, würde er etwas merkwürdiges mitbekommen. Außer die Vorhänge schnell fester zuzuziehen. Ich will nur mit dir reden.

„Ich werde zu Hause erwartet.“

Ariana lächelte schief. „Dann wahrscheinlich schon seit einigen Stunden und dann wäre auch schon eine Polizeistreife auf der Suche nach dir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Von jemandem, der sich auch so lange wie möglich draußen rumgedrückt hat, zu jemandem, der sich so lange wie möglich draußen rumdrückt … Ich werde dich, in der Sekunde, in der du das willst, nach Hause bringen. Oder zur nächsten Straßenecke, wenn du Nachfragen vermeiden willst.

Der Teenager sah sie einen Moment durch das offene Fenster an. Dann ergriff er den Türöffner, der Hintertür und spähte einen Moment auf die zweite Sitzbank und deren Fußraum. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, die Beifahrertür geöffnet und Arianas wahrscheinliche Zielperson kletterte hinein.

Ariana atmete auf, als das Gefühl der Dringlichkeit etwas abnahm.

Bevor sich ihr Gast auf den Beifahrersitz fallen ließ, hob er die dort liegenden Spitzenschuhe auf und hielt sie Ariana fragend hin. Die hatte sie dort deponiert, als sie unterwegs die Kleider gewechselt hatte. Nun nahm sie sie entgegen, nickte einmal und ließ sie dann in den Fußraum hinter dem Fahrersitz fallen. „Danke.“

Ihr, vermutlich, Schützling schloss die Beifahrertür und schnallte sich, ohne darum gebeten zu werden, an.

„Ich hab auf der Fahrt hierher einen schönen Platz mit Aussicht entdeckt. Wäre der okay?“

„Ja, klar.“ Ihr Beifahrer nickte.

Ariana nickte somit auch und startete den Pick-Up, um den Weg zurückzufahren, den sie gekommen war. Nur diesmal deutlich zivilisierter.

„Ich bin Ariana. Ariana Austen.“  Sie sah aus den Augenwinkeln zum Beifahrersitz. „Pronomen: Sie/ihr.“

Sie wurde groß von der Seite angeschaut.

Für einen Moment fiel sie in den Western-Cowboy-Akzent ihrer Heimat in Wyoming, den sie sich seit der Highschool mit so viel Mühe abtrainiert hatte. „Nur weil ich mich ein bisschen mit Käffern auskenne, heißt es nicht, dass ich dort geblieben bin. Ich war auf Bryn Mawr.“

Der Name brachte nur noch mehr Fragezeichen auf das Gesicht ihres Gastes.

„Ein … College.“ Sie hatte sich zu sehr daran gewohnt, unter ‚Ihresgleichen‘ zu sein. Unter Menschen, die ihr College und ihre Abschlüsse vor sich hertrugen, wie ein Dackelzüchter den Stammbaum seines Preisrüden. „Eines der letzten alten Frauencolleges. Ziemlich offen. Aufgeschlossen.“

„Frauencollege,“ kam die eher neutrale Antwort.

„Ja, aber es sind auch Transsexuelle immatrikuliert, Transgender, Nichtbinäre. Sogar hin und wieder ein Mann.“

„Aha.“ Ihr Gast nickte.

„Und wie heißt du? Falls ich es wissen darf.“

„Hast du nicht gerade gesagt, du bist wegen mir hier?“

Ariana nickte wieder. „Ja, aber das heißt nicht, das ich weiß, wer du bist. Lange Geschichte, aber ich erkläre dir alles.“

Nun war ihr Gast daran, zu nicken. „Marlin. Xier/xies. Und Austen? Verwandt oder verschwägert?“

„Weder noch.“ Ariana warf einen kurzen Seitenblick zu xies Beifahrer. „Es ist nicht der Name, mit dem ich geboren wurde. Und die Staatsanwältin, die meine Namensänderung einleitete, war anscheinend ein großer Jane Austen Fan.“ Sie schmunzelte schief. 

„Aha.“ Der Blick xiers Beifahrers lag weiterhin auf ihr, aber erst mal kamen keine weiteren Fragen.

Ariana packte dann nach nicht allzu langer Zeit auf der Anhöhe mit der guten Aussicht ein und stellte den Motor ab.

Dann atmete sie durch.  „Gut. Das war bisher sicher sehr seltsam und ich kann leider nicht sagen, dass es jetzt weniger seltsam ist. Aber darf ich erst mal eine Frage stellen? Was ist der Grund, das du nicht so heiß drauf warst, nach Hause zu gehen?“


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01 — Katharsis

Young beautiful dancer jumping into blue powder cloud

Sie betrat das Tanzstudio, dessen Raum sie für die kommende Stunde gemietet hatte und schloß die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Kurz blieb sie dort stehen, lehnte die Stirn an die geschlossene Tür, bevor sie durch den Raum zu der Bank an der Querseite schritt. Sie ließ ihre Tasche auf die Bank gleiten und nahm daneben Platz  um aus ihren Schuhen heraus und in die Spitzenschuhe hineinzuschlüpfen.

Ohne es wirklich zu bemerken, vermied sie es, in die großen Spiegel der Längsseite zu sehen. Statt dessen fiel ihr dunkles Haar wie ein Vorhang, oder wie Scheuklappen, um sie herum, während sie langsam, sorgfältig, eines der Satinbänder nach dem anderen um ihre Fußgelenke schlang. Kurz stellte sie jeden Fuß auf, um den Sitz der Schuhe zu überprüfen, bevor sie zu ihrem Smartphone griff, und die in der Wand versteckten Bluetooth-Lautsprecher ansteuerte.

Sie hatte die Playlist sorgfältig im Vorfeld zusammengestellt. Jedes Stück genau in der richtigen Länge für die einzelnen Übungen. Nur nicht mit den Gedanken abschweifen und das Warmmachen schleifen lassen. Sie mochte viel überleben können, aber Muskelfaser- oder Sehnenrisse waren doch schmerzhaft. Und der Heiler war …

Sie brach den Gedankengang ab.

Anmutig konnte man ihre Bewegungen noch nicht nennen, nach den wenigen Monaten Training. Sie hatte zu spät mit dem Training angefangen … viel zu alt. Sie war keine Ballerina, würde nie eine sein, egal wie viel Zeit ihr Trainer in sie steckte. 

Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht tanzen konnte. Oder wollte. 

Während hinter ihr die Klaviermusik aus den Lautsprechern plätscherte, führte sie methodisch – und irgendwie auch mechanisch – die Übungen an der Stange aus. Normalerweise würde sie ihre Haltung im Spiegel kontrollieren. Korrigieren. Heute hielt sie den Blick abgewendet und ging gerade nicht so weit, den Spiegel temporär zumindest, in eine stumpfe Fläche zu verwandeln. Es konnte jederzeit jemand hereinkommen, obwohl sie eine Stunde gewählt hatte, zu der sie sehr wahrscheinlich alleine in der gesamten Tanzschule sein würde. Abgesehen von ihrem Kontakt, der sie hereingelassen hatte und später wieder hinauslassen würde. Aber man wusste nie und wenn sie gerade etwas nicht noch zusätzlich nötig hatte, dann war das Paradox.

Etwa 100 unterschiedlicher Pliées und Dehnübungen später, endete das Klaviergeklimper und in der Playlist entstand eine kurze, voreingestellte Pause. Noch ein Tastenanschlag mehr und das nächste Klavier, das ihr begegnet wäre, hätte möglicherweise einen kurzen und feurigen Tod erhalten.

Mit einem halben Dutzend schneller Schritte, war sie in der Mitte des Raums. Und als die erste Note des harten Rocksongs aus den Lautsprechern dröhnte, begann sie zu tanzen. 

Nur wenige Takte in die Musik setzte sie zum ersten Tour jeté an, dann folgte Sprung auf Sprung, im harten Rhytmus der schnellen Passagen.

Eine Kombination, die auch für eine durchtrainierte, professionelle Tänzerin an die Grenzen der Kondition gehen würde. Bei ihr aber wurde jeder Sprung höher, gewagter, die Drehungen schneller.
Sie brauchte es gerade, ihren Körper zu spüren, an dessen Grenzen zu gehen und darüber hinaus.

Ihr langes, offenes Haar wirbelte um sie, verdeckte ihr nicht selten die Sicht, wenn sie überhaupt Wert darauf gelegt hätte, zu sehen wohin sie sich bewegte.

Nur einmal streifte sie ihr eigenes Bild flüchtig mit dem Blick im Spiegel. Die Wangenknochen, die stärker hervortraten. Die härtere Kinnlinie. Die Schatten unter ihren Augen.

Gleich wurde ihr Gesicht von anderen Gesichtern verdrängt. Ihrem Verlobten … verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Grand jeté.

Ihre Wahlfamilie. Verschwunden. Vermisst. Vermutlich tot.

Brisé. Pirouette.

Nicht einmal sie hatte, mit all ihren Fähigkeiten, etwas herausfinden könnten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Erdboden sie nicht einmal gekannt.

Ein weitere Sprung ging in den nächsten über. Halsbrecherisch oder eher knochenbrecherisch bei ihrem Ausbildungsstand. Doch sie lehnte sich nur mehr in die Sprünge hinein, spürte die Kräfte, die Fliehkräfte wirken, während sie einen kleinen Zauber hineinfließen ließ, die Sprünge noch etwas extatischer machte.

Nur wenig. Es konnte immer noch jemand reinkommen. Jemand durch die Fenster knapp unter der Decke hineinspähen, so unwahrscheinlich das auch war.

Das Lied ging in das nächste, ähnlich schnelle, ähnlich harte Lied über und das nächste. Als der letzte Ton des letzten Liedes verklang, führte der letzte Sprung sie in eine kniende Position.  Hier verharrte sie, den Kopf gesenkt, das Haar sie umgebend, wie einen Schleier, während sich ihr Atem nur langsam beruhigte.

Im Moment hätte sie gar nicht aufstehen können, selbst wenn sie wollte. Ihre Knie hätten zu sehr gewackelt.

Sie blieb dort, an der Stelle, bis es leise klopfte und ihr Kontakt den Kopf hereinstreckte. „Ich muss demnächst abschließen, Miss und sie wollen sicher noch duschen.“

Ariana schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich dusche zuhause. Es ist nicht weit. Ich bin in zehn Minuten am Eingang.“

„Danke, Miss,“ die Tür schloß sich wieder.

Sie erhob sich. Eher ungraziös. Der mächtige Muskelkater, den sie am nächsten Tag haben würde, kündigte sich bereits an. Aber es war ihr gleich. Nein. Falsch. Sie würde ihn begrüßen.

Schmerz. Er passte zu ihrem Leben. Nicht erst seit gestern, aber besonders in dieser Zeit.

Sie ließ sich auf der Bank nieder um die Bänder der Spitzenschuhe aufzuschnüren. Während sie die Schuhe abstreifte, klingelte ihr Telefon. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer, um dann sofort abzunehmen.

Ihr Chantry. Aber nicht die zentrale Nummer, sondern das ‚rote‘ Telefon.

Statt einer Telefonverbindung baute sich eine Videokonferenz auf und Ariana blickte in ein knautschig-faltiges, gutmütiges Gesicht, das sie ernst anblickte.

„Was gibt es?“ fragte sie ohne Smalltalk.

„Das Medium im Dienst hat einen neuen Erwachenden gefunden. Er ist in akuter Gefahr.“

Sie presste die Lippen zusammen und nickte.  Dann konnte sie ein leises Seufzen aber auch nicht unterdrücken. „Bleibt mir Zeit für eine Dusche?“

„Besser nicht, antwortete die Frau auf der anderen Seite. „Es sind 100 Meilen nordöstlich deiner Position. Ich schicken dir alle weiteren Daten aufs Smartphone. Sofern du nicht noch Verbündete in der Gegend hast, können wir dir gerade niemanden schicken. Du bist auf dich alleine gestellt. Es tut mir leid.“

Ariana nickte. „Zehn Minuten, dann bin ich unterwegs. Wünsch mir Glück.“

Die Frau auf der Gegenseite hob einen Mundwinkel. „Was sagen wir zum Gott des Todes?“

„Nicht heute.“ Ariana legte auf und warf das Gerät in ihre Tasche, zusammen mit den Schuhen.

Zehn Minuten später rauschte ein weißer Ford Pick-Up über die Ausfallstraße in nordöstliche Richtung.

Sie war auf dem Weg.


02 — Odyssee

Ballerina dancing in pointe shoes

Vage. So vage.

Es war eine Idee gewesen, Übersinnliche mit medialen Fähigkeiten anzuheuern, um dem gegenzusteuern, dass immer mehr  Erwachende dies außerhalb der Strukturen taten, die sich unter Magiern, Garou oder auch den Changelings ausgebildet hatten. Den Suits einen Schritt voraus sein. 

Aber abgesehen davon, dass nicht gerade viele Medien Schlange standen, um Freiwilligenarbeit für sie zu leisten, war diese Arbeit auch auf eine Art anstrengend, die Ariana erst nachvollziehen konnte, seit sie selbst ein paar Mal als … Kanal …für Entitäten von der anderne Seite gedient hatte. 

Es war nicht so, dass ihre Hilfe der medial Begabten nicht nützlich war. Im Gegenteil. Sie war  unersetzlich. Aber sie war auch extrem anfällig, störanfällig, und oft extrem vage. 

Und jetzt hatte sie auch noch das Navi in ein weiteres, totes Ende geführt. 

Ariana fluchte leise und rammte die Automatic des Ford Heavy Duty Pickups in den Rückwärtsgang. Neben ihr in der Schale, die auf die Mittelkonsole aufgesetzt war, regte sich etwas und Zyx, die kleine Grasnatter blickte missmutig züngelnd von ihrem Wärmestein auf. 

Nach einem Moment wirkte sie resigniert – wenn Grasnattern resigniert schauen konnten und sie streckte sich von dem Wärmestein, hin zu Arianas Arm. Erst wand sich sich um den Arm herum, dann schlüpfte sie unter den Armel und wand sich den Arm hinauf, bis sie sich wie eine dekorative Torque um Arianas legte. Dem wohl einzigen Platz im Wagen, der von der eher ruppigen Fahrweise der Magierin gerade nicht durchgeschüttelt wurde, weil sie automatisch mit ihrem Körper ausglich. 

„C’mon …“ fluchte sie leise in Richtung des Navis. „… es muss doch einen Weg auf diese Anhöhe geben, der nicht im Nirgendwo endet.“

Tatsächlich berechnete das System just in diesem Moment die Strecke neu und zeigte eine beruhigende grüne Linie, die grob in die Richtung führte, das Medium genannt hatte. Das die wenigen Bilder, die es empfangen hatte, noch mit ‚vermutlich weiter oben‘ garniert hatte. 

„Wenn es wenigstens eine Monty Python Wegbeschreibung wäre, dann wäre es wenigstens witzig,“ murmelte Ariana und brachte das Auto, sie selbst und damit auch die Grasnatter um ihren Hals auf den neuen Weg. Aber nicht nur, dass die Wegbeschreibung vage geblieben war, sie wusste nicht einmal, mit was für einer Art von Erwachendem sie es zu tun haben würde. Einem Magier? Einem Garou? Einem Changeling? Wohl keinen Changeling. Diese hatten irgendwie besser Chancen, die ihren auch über Entfernung zu erkennen, als sie die Magier. Auch die Garou hatten nicht ganz so viel Pech mit Lost Cubs, wie sie es anscheinend hatten, mit Erwachenden die … irgendwo verschwanden … 

Aber nicht heute. NIcht, wenn sie es verhindern konnte. 

Alles was sie im Moment brauchte, war ein Platz. Am Besten etwas erhöht, und nicht auf den ersten Blick von weither einsehbar. Mit zumindest ein bisschen Platz und ein bisschen Schutz, dass sie ein Ritual machen konnte. Alleine, zum ersten Mal seit … seit sie erwacht war? Überhaupt? Ein bitterer Geschmack sammelte sich in ihrem Mund. Aber jetzt war nicht der Moment, zusammenzubrechen und sich in ein Häufchen Elend aufzulösen. 

Jemand brauchte ihre Hilfe und das war genug.